O Sole Mio

"Verdammt, ich brauche eine Brille", denke ich mir und versuche im Straßenatlas einige Ortsnamen in den Hohen Tauern zu entziffern. Vielleicht liegt es auch an der schummrigen Beleuchtung im Auto, die nur schwach gegen die neblig-graue norddeutsche Abenddämmerung ankämpft, aber ich habe echte Schwierigkeiten, die klein gedruckten Ortsnamen zu entziffern. Fusch an der Großglocknerstraße, Badgastein, Matrei. Namen, die wie Musik in meinen Ohren klingen und mit denen ich Berge, Sonne und kristallklare Luft verbinde. Während die beiden Mädels im Supermarkt die Regale leer kaufen, sitze ich hier auf dem Fahrersitz und träume vom Reisen, weg aus den norddeutschen Niederungen und möglichst weit nach SÜDEN. Keine Frage, auch in diesem Sommer wird es wieder mit Bike und Zelt auf große Fahrt gehen, die seit einigen Jahren regelmäßig eingeplante Radtour muss in jedem Fall sein. Aber noch ist es Januar, ziemlich lange vom Sommer entfernt.

Ich nehme mir vor, in diesem Jahr weder ein Ziel noch eine Reiseroute festzulegen. Statt dessen werde ich Dank speziellen Kartenmaterials zwar nicht umher-"irren", jedoch mehr oder weniger ziellos umher-"fahren" und mich unterwegs spontan inspirieren lassen. Lediglich zwei Rahmendaten stehen jetzt schon fest: Zum Ersten plane ich gewohnheitsmäßig zum Schluss der Tour einige Tage in Lindau zu verbringen und von dort auch die Rückreise mit der Bahn anzutreten. Und zum Zweiten ist für den Start der 12. August denkbar, da die nicht mehr so ganz kleine Große am 10. August für längere Zeit nach Übersee verschwindet und ich ein wichtiges Mitglied des Abschiedskomitees bin. Alles Weitere, insbesondere auch die Dauer der Tour, werde ich nicht festlegen, maximal drei Wochen plus vielleicht zwei oder drei Tage sind möglich.

Das Bike (Focus "Fat Boy" mit Shimano XT) hat zwar schon 10 Jahre auf dem Buckel und hängt zur Zeit im Winterschlaf an der Decke, ist technisch aber immer noch ok, lediglich neue Reifen werde ich ihm mal wieder gönnen. Für den Rest der Ausrüstung gilt: Same procedure as every year, kein Probecampen vor dem Ernstfall. Es wird schon alles in Ordnung sein und die wichtigsten Dinge sind noch vergleichsweise neu, da ich in den vergangenen Jahren meine ursprüngliche Billigausrüstung gegen eine altersgerechte Komfortausstattung ausgetauscht habe: Das Zelt (Hillgo "Poly Tex 6000") ist groß, leicht und so wasserdicht, dass selbst ein Regenschauer mit 80 Litern in 3 Stunden kein Problem war. Die Liegeunterlage (Exped "Downmat 9 DLX") ist federleicht, da mit Federn gefüllt, und deshalb auch an kalten Tagen angenehm warm. Und der Schlafsack (Salewa "Thermodual lite") hat zwar schon bessere Tage gesehen und seitdem einige der kostbaren Daunen verloren, reicht für Temperaturen bis nahe Null Grad jedoch immer noch aus.

Nach den Kälteschocks im letzten Jahr setze ich im Geiste allerdings noch einen zusätzlichen Pullover mit auf die Packliste, man kann ja nie wissen. Dafür werde ich die Handschuhe und die Wintermütze im Schrank lassen: Sollte es wirklich SO kalt werden oder gar Schnee fallen, breche ich die Tour auf der Stelle ab oder verziehe mich in die nächsten beheizten Räumlichkeiten. Schnee? Kälte? Im August? In den Alpen nur eine Frage der Höhe über dem Meeresspiegel, was mir im Juli 1999 am Arlberg durch leidvolle Erfahrung auch bewusst geworden ist.

Ich schlage den Autoatlas zu. Wofür brauche ich eine Karte, wenn ich einfach ziellos durch die Gegend radeln will? Und sowieso nur die Hälfte entziffern kann? "Hoffentlich wird es nicht wieder so eine Kälte- und Regentour wie im letzten Jahr", denke ich mir, werde aber beim Sinnieren über Klimawandel und Wetterkapriolen durch die beiden Mädels gestört, die Hilfe beim Entladen des Einkaufswagens anfordern.

Was ich jetzt noch nicht weiß: Es wird die absolute Sonnentour, den dicken Pullover benutze ich ausschließlich als Kopfkissen, Liegeunterlage und Schlafsack waren viel zu warm und das Regenzeug (fast) überflüssig. O sole mio. Aber alles schön der Reihe nach.