1. Tag (Dienstag, 12.08.): Oldenburg - Detmold, 167 km

Den ganzen Sommer habe ich mich schon auf diesen Tag gefreut. Endlich weg! Nun, wo es soweit ist, tut sich jedoch ein kleines Problem auf: Die Motivation, bei gräulichem Wetter, deutlichem Gegenwind und der bedrohlichen Wetterprognose: "Es wird schlechter!", tatsächlich loszufahren, ist definitiv gering. So bin ich zwar schon früh auf den Beinen, um den Bauch mit konditionssichernden Lebensmitteln zu füllen und die Ausrüstung noch einmal auf Vollständigkeit zu checken, aber irgendwie verschiebe ich den Start dann doch von Viertelstunde zu Viertelstunde. Ein schneller Blick ins Internet, um die aktuelle Schauerentwicklung (www.niederschlagsradar.de) auf der Strecke nach Süden zu erfassen, bringt auch keine wirklich erhellenden Erkenntnisse, abgesehen von der Tatsache, dass wirkliches Sommerwetter anders aussieht. Trotzdem fasse ich den Entschluss, zu fahren und um 10:15 Uhr geht's dann tatsächlich los.

Die Strecke ist aus den Vorjahren bestens bekannt und soll auch heute ohne Änderungen gefahren werden. Da mehr als 160 km für den ersten Tag keine Kleinigkeit sind, ist "Kraftmanagement" erforderlich und ich bewege mich in einem eher gemütlichen Tempo vorwärts. Allerdings bin ich dabei immer noch schneller als die Mehrzahl der eingeborenen Schaffellsattellenkerradiohollandradfahrer, die mir auf der Strecke in die Quere kommen und die Umwelt mit fröhlichen Ü65-Melodien von Radio Niedersachsen (respektloser Spitzname: "Sterbehilfe") verseuchen. Problematisch ist es ab und zu, Gruppen von Schaffellsattellenkerradiohollandradfahrern zu überholen: Bei altersbedingt schwächerem Hörvermögen und Dauerbedudelung durch die Sterbehilfe ist schon schwereres Geschütz erforderlich als das zarte "Ping" der Mountainbike-Miniatursignalanlage. Genervtes Anbrüllen verschafft zwar Aufmerksamkeit, führt aber zu Gemotze und Renitenz, denn es gibt viele Mitbürgerinnen und Mitbürger, die beim Radeln keine höhere Geschwindigkeit als die eigene zulassen wollen und deshalb einfach nicht weichen. Wesentlich geeigneter ist zur Einleitung eines Überholvorgangs ein altersgruppengerechter Kalauer: "Vorsicht, Kettenfahrzeug!", laut und deutlich in reichlich Abstand gerufen, bringt Ü65 immer wieder zum breiten Grinsen oder lockt sogar ein "Hohoho" oder andere, wohlmeinende akustische Reaktionen hervor. Und bei einer derartigen Charmeoffensive macht jeder Schaffellsattellenkerradiohollandradfahrer gut gelaunt, freiwillig und ohne Zögern den Weg frei. "Ja, ich bin doch ein toller Typ", denke ich mir bei schneller Vorbeifahrt, auch wenn ich vielleicht der Einzige bin, der so denkt.

Eigentlich geht's ganz gut, abgesehen von der Tatsache, dass ich mir bei der ersten Pinkelpause den Bügel von der leicht getönten Fahrradbrille abbreche. Wie Mann sich beim Pinkeln die Brille demolieren kann? Keine Details, aber es geht! Und mit nur geringfügig weniger Glück hätte das auch ins Auge gehen können. Ich ärgere mich nur marginal, denn was soll's, es scheint sowieso keine Sonne und wer braucht bei diesem Grauwetter ein vor schädlichen UV-Strahlen schützendes Hilfsmittel auf der Nase? Trotzdem ist sie eine alte Bekannte, die mich schon einige Jahre treu begleitet und nie versagt hat. So überkommt mich plötzliches Mitleid mit der nunmehr halbseitig amputierten Brille und ich fühle mich zu dem Versprechen genötigt, sie trotzdem an meiner Tour teilhaben zu lassen. Obwohl ich viel mehr Lust auf einen Brillenweitwurf direkt in das benachbarte Maisfeld hätte. Also: Brille einpacken und weiter.

In Barnstorf erwischt mich der erste Regenschauer, der zunächst harmlos und ganz unverdächtig mit leichtem Getröpfel startet, sich dann aber schnell zu einem ausgewachsenen Wasserschwall entwickelt. Der erste Einsatz für das Regenzeug. "Das fängt ja gut an", geht mir durch den Kopf während ich mich über einige neue Radwegkilometer auf der Strecke nach Wagenfeld freue. Wenn ich mich so umschaue, wird mir noch einmal deutlich bewusst, dass ich dringend einen Tapetenwechsel brauche: Plattes Land, Kartoffelacker und wabernde Gülleschwaden auf abgeernteten Getreidefeldern mögen für manche Menschen die Voraussetzung für Urlaub und Erholung sein. Für mich jedoch nicht. Also weiter, zur ersten Gebirgsetappe, der Querung des Wiehengebirges. An und für sich eine nette Sache, allerdings benutze ich dafür die dreispurige B 239 ohne Seitenstreifen und Rad- oder Fußweg, aber mit reichlich LKW-Verkehr, der sich dröhnend und stinkend den Hang hinauf quält. Warum ich keine andere Strecke wähle? Die B 239 ist die direkte und schnellste Verbindung, und das zählt jetzt. Also: Augen geradeaus, Ohren zu, so schnell wie möglich hinauf und mit Spitzengeschwindigkeit wieder hinunter.

Zwischen Herford und Bad Salzuflen gerate ich dann noch in ein heftiges Gewitter, das ich glücklicherweise im Schutze einer Autobahnbrücke ganz entspannt und trocken verfolgen kann. Trotz dieser Zwangspause bin ich noch vor Einbruch der Dunkelheit bei den Eltern in Detmold, dem Ziel des ersten Tages. Um mich herum türmen sich beeindruckende Gewitterwolken, die aber gnädigerweise einen Bogen um mich machen und erst nach meiner Ankunft gibt es heftigen Regen.

Ein Vergleich mit Tourdaten vergangener Jahre zeigt, dass die Fahrzeit Jahr für Jahr um einige Minuten zu- und die Durchschnittsgeschwindigkeit entsprechend abnimmt. Selbstverständlich liegt das am Gegenwind, ist doch klar. Oder doch an altersbedingtem Konditionsverfall, schlechtem Training, zunehmender Bequemlichkeit, abfallendem Testosteronspiegel? Ich bin mir nicht ganz sicher, nehme mir jedoch sicherheitshalber vor, im nächsten Jahr besser zu trainieren.