2. Tag (Mittwoch, 13.08.): Detmold - Bad Karlshafen, 101 km

Nachdem sich die Gewitter in der Nacht ausgetobt haben traut sich am Morgen wieder die Sonne hervor. Mit einem ausgiebigen Frühstück im Verdauungstrakt geht es gut gelaunt weiter in Richtung Polle an der Weser. Die Strecke führt durch Bad Meinberg, ein völlig verschlafenes lippisches "Staatsbad", und vorbei am Emmerstausee bei Schieder, meist auf Radwegen oder nur mäßig befahrenen Straßen. Das Fahren ist ein echter Genuss, da kräftiger Rückenwind den Eindruck ständigen Bergabfahrens hervorruft und die Landschaft in angenehmem Kontrast zum norddeutschen Gülleflachland steht. Kurz hinter Rischenau lege ich eine erste Rast an der Mauer des Klosters Falkenhagen ein, bei strahlendem Sonnenschein im Windschatten und mit einem schönen Blick auf den markanten Hügel des Köterberges. Zwei Wachhunde sind durch meine Anwesenheit ziemlich irritiert und machen das, was die Natur ihnen als Aufgabe zugeteilt hat: Sie bellen laut, aggressiv, hässlich und ohne Unterlass. Aber bereits nach 10 Minuten Dauerbebellung haben sie sich an mich gewöhnt und verziehen sich in abgelegenere Bereiche des Grundstücks.

Auch ich verziehe mich talabwärts in Richtung Polle, wobei ich nicht den direkten Weg, sondern den landschaftlich wesentlich reizvolleren Umweg über Hummersen und das Gelände des Golfclubs "Weserbergland" wähle. Die Golfer sind mit großem Eifer bei der Sache und so werde ich unversehens Zeuge, wie ein mit hoher Konzentration als "Birdie" geplanter Schlag mit einem deutlich vernehmbaren "Klack" eine über das Gelände verlaufende Freileitung trifft. Der Golfball verliert seinen Schwung, der Golfer seine Contenance. Der spontane Wutausbruch ruft nicht nur bei mir, sondern auch bei den Mitspielern ein breites Grinsen hervor. So schön kann Sport sein.

In Polle überquere ich die Weser mit der historischen Weserfähre (1 Person, 1 Rad, 1 Euro), die -ökoöko- als Gierseilfähre ohne Motor allein durch die Strömung des Flusses angetrieben wird. Und ich verlasse den Fahrrad-Wirkungskreis meiner Jugend, denn über Polle bin ich seinerzeit mit meinem Uralt-Eigenbau-Fahrrad nie hinausgekommen. Aber so wirklich unbekannt ist mir das nun betretene bzw. befahrene Terrain auch nicht, denn auf dieser Flussseite treffe ich auf den Weserradweg, der anlässlich einer Radtour vor einigen Jahren von mir bereits befahren wurde. Abgesehen vom Radweg erwarten mich auch zwei weitere Besonderheiten: Erstens bin ich nun nicht mehr der einzige Radler weit und breit, sondern reihe mich ein in die bemerkenswert große Anzahl weiterer Radtouristen, die einen der beliebtesten Radwege Deutschlands erfahren, sich dabei im Gegensatz zu mir jedoch vorzugsweise flussabwärts bewegen. Zweitens trifft mich Gegenwind der übelsten Sorte, also direkt von vorn und in Nordseedeichstärke, da sich das über der Nordsee liegende Tiefdruckgebiet "Elfriede" mit einer kräftigen Südwestströmung insbesondere in der Mitte Deutschlands bemerkbar macht.

Der nächste größere Ort ist Holzminden, ein Ort, der sich bestens für einen kleinen Ausflug in die Industriegeschichte eignet und sich dazu passend heute mit einem dezenten, aber naturidentischen Vanillearoma präsentiert. Grund für diese Geruchsoffensive ist nicht etwa ein besonderer Gag des Stadtmarketings, sondern das Unternehmen Symrise (Logo: Drache und Kolibri in trauter Eintracht), das durch die Fusion der beiden ortsansässigen Duftstoff- und Aromaproduzenten Dragoco (Logo: Drache) und H&R (Logo: Kolibri) entstand. Der Bezug Holzmindens zum Vanillearoma ist nicht zufällig, denn Vanillearoma (Vanillin) entsteht durch Fermentation, d.h. Vergammeln von organischen Materialien, ganz besonders in der Vanilleschote. Vanillin ist aber auch chemisch nah mit einem Abfallprodukt der Papier- und Zellstoffherstellung verwandt und lässt sich zudem aus dem Saft junger Nadelhölzer gewinnen. Die Firmengründer von H&R entdeckten diese Methode zur Herstellung von Vanillin, die sich auch großtechnisch umsetzen lässt, und gründeten 1875 den weltweit ersten Betrieb zur Herstellung von synthetischen Geschmacksstoffen in Holzminden. Umgeben von reichlich Wald war der Grundstoff für die Produktion nicht fern und so konnten die Chemiker von H&R den Saft aus den heimischen Nadelhölzern saugen, wie ein Kolibri den Nektar aus der Blüte. Einige Jahre später (1919) entstand das Unternehmen Dragoco, das sich in den Folgejahren zwar nicht so schnell wie H&R entwickelte, aber bis zur Fusion mit H&R (ca. 5.400 Mitarbeiter) auf immerhin ca. 1.800 Mitarbeiter anwuchs.

Symrise ist heute die weltweite Nr. 4 der Branche und genießt besondere Aufmerksamkeit in der niedersächsischen Landespolitik. Immerhin sind sowohl der derzeitige Innenminister als ehemaliger Bürgermeister der Stadt wie auch der aus der Region stammende Landwirtschaftsminister sehr an dem Wohlergehen der Stadt und ihrem bei weitem wichtigsten Steuerzahler und privaten Arbeitgeber interessiert, und so konnten Abwanderungsideen in das Niedriglohnausland bislang erfolgreich verhindert werden. Ein Schelm, wer filziges dabei denkt...

Symrise ist ein gutes Beispiel für die BWL-Vorlesung wenn es um die Abhängigkeit ganzer Regionen von einzelnen Unternehmen geht. Aber auch die Auswirkungen des Auftretens von Finanzinvestoren lassen sich an Symrise gut demonstrieren, denn die ökonomisch sinnvolle Fusion zweier benachbarter Konkurrenzunternehmen mit teilweise identischer, teilweise sich ergänzender Produktpalette wurde von den Inhabern der Unternehmen H&R (Bayer AG) und Dragoco (Gründerfamilie) nicht geschafft. Der Einfluss des zur schwedischen Familie Wallenberg gehörenden Finanzinvestors EQT, der H&R von Bayer übernommen und Minderheitsbeteiligungen an Dragoco erworben hatte, brachte jedoch die bestehenden Barrieren zu Fall und so konnte ein hoch spezialisierter "Hidden Champion des 21. Jahrhunderts" (Hermann Simon) entstehen. Das letzte noch in der Geschäftsführung von Dragoco tätige Mitglied der Gründerfamilie wurde mit einer Beteiligung an Symrise sowie einem Posten im Beratergremium von EQT vom ökonomischen Sinn der Fusion überzeugt. Abgesehen davon, dass einige Mitarbeiter Opfer von Rationalisierungen wurden und dass sich der Aktienkurs ca. 35% unter dem Emissionskurs befindet, ist die Entwicklung des Unternehmens nach der Fusion offensichtlich positiv. Keine Spur also von einem Heuschreckeninvestor, der im Münte'schen Sinne ein Unternehmen heimsucht, aussaugt und nur die nicht verdaulichen Überreste übrig lässt.

All dies geht mir gleichsam als BWL-Konzentrat der letzten Jahre durch den Kopf während ich das bepackte Bike durch die von Fachwerkhäusern gesäumte Fußgängerzone des ziemlich verschlafenen Städtchens schiebe. Ein leichtes Gruseln überkommt mich beim Gedanken daran, dass Holzminden eine Fachhochschule beheimatet und dort junge lebenslustige Menschen nicht nur studieren, sondern auch leben wollen. Welch eine Langeweile! Aber andererseits gibt es hier keine Ablenkung vom effizienten Studium...

Einer Espressopause kann ich noch knapp widerstehen und ich beschließe, stattdessen ein schönes Plätzchen mit Blick auf die Weser für die fällige Mittagspause zu suchen. Einige Kilometer hinter Holzminden bietet sich dann eine geeignete Rastmöglichkeit unter hohen Bäumen. Leider wird die Pause durch einen heftigen Regenschauer gestört, aber kein Problem, denn ein freundlicher Zeitgenosse bietet mir Schutz auf der überdachten Veranda seiner nahe gelegenen Fischerhütte an. Die Hütte beherbergt einen unübersehbaren Vorrat an Bier und erinnert mit ihrem sehr rustikalen Sperrmüllinterieur und dem eher strengen Odeur eher an einen Geräteschuppen als an ein Wochenendhaus. Der "Fischer" macht denn auch einen leicht angeschickerten Eindruck, aber wir unterhalten uns mit großem Ernst über langsamradelnde Senioren, den Sinn von Fahrradhelmen, das Wetter im Allgemeinen und "Elfriede" im Besonderen.

Nach dem Regen geht es mit zunehmendem Gegenwind und abnehmender Geschwindigkeit weiter voran. Vom Wind ziemlich abgenervt verzichte ich auf eine Besichtigung der Klosteranlage in Corvey, ärgere mich über Umwege aufgrund wegen Astbruch gesperrter Streckenabschnitte und gelange so langsam zu der Erkenntnis, dass dieser Tag keinen Streckenrekord bringen und definitiv vor Hann. Münden enden wird. In Bad Karlshafen entdecke ich dann einen Campingplatz (*** in der subjektiven Wertung, 8,35 Euro inkl. Dusche) direkt am Fluss, der zudem noch einen angenehmen Eindruck macht, und ich beschließe spontan, die Tagesetappe hier zu beenden. Das Zelt ist dank mehrjähriger Routine schnell aufgebaut. Während ich mich im nahe gelegenen Einkaufszentrum mit einem opulenten Abendessen versorge geht draußen sintflutartiger Regen nieder, Glück gehabt. Nach dem Regenguss ist der Wind verschwunden und der Abend endet wellnessmäßig mit einem Fläschchen Rotwein am Weserufer mit Blick auf die Altstadt von Bad Karlshafen.