3. Tag (Donnerstag, 14.08.): Bad Karlshafen - Melsungen, 120 km

Der Stellplatz war günstig gewählt: Die Morgensonne kann schon früh das Zelt angenehm wärmen und das auf der Innenseite des Außenzeltes während der Nacht niedergeschlagene Kondenswasser trocknen. Nebenan bemüht sich ein Vater mit vier Kindern im geschätzten Alter zwischen 6 und 16 Jahren die Situation ohne Anwendung von Autorität in den Griff zu bekommen mit der lustigen Konsequenz, dass jedes Mitglied der kleinen Reisegruppe das tut, was es gerne möchte: Der Kleine spielt im Schlafanzug am Wasser und jagt die genervten Enten, zwei weibliche Teenies machen sich für eine ausgiebige Duschsession bereit und die Vierte im Bunde liegt noch irgendwo im Zelt und knurrt widerwillig bei jeder Kontaktaufnahme. Kurz gesagt, die Weiterreise wird sicherlich nicht vor Mittag erfolgen. Einen Stellplatz weiter oberhalb beschäftigen sich zwei Pärchen damit, ihre Kanus flott zu machen, das Zelt zusammenzulegen und die reichhaltige Ausrüstung wasserdicht und schwimmfähig zu verpacken. Rechts neben mir führt ein männlicher Campingwagenbewohner ein lautes, belangloses Telefongespräch während das weibliche Gegenstück den Frühstückstisch mit allen für ein gemütliches Campingfrühstück erforderlichen Nahrungsmittel voll packt. Vorbeischlurfende, mit Schlafanzügen oder topmodischen Ballonseidejogginganzügen und den in diesem Jahr extrem angesagten neonfarbigen "Crocs" (Plastikmüll, recycled, weichgemacht und in Schuhform gegossen) ausgestattete Campingplatzbewohner versuchen neugierig einen Blick in das Zelt dieses merkwürdigen, allein reisenden und dann auch noch langhaarigen Typs zu erhaschen. Ja, der Eindruck täuscht nicht, Campingplätze sind eine eigene kleine Welt, deren Bewohner sich oftmals deutlich von den Bewohnern der übrigen Welt unterscheiden. Aber als Abwechslung zum häuslichen Alltag ist das alles für mich völlig ok und ich grinse jeden freundlich an. Ich bin ok, Du bist ok, wir sind ok!

Einen aktuellen Wetterbericht habe ich nicht, denn die Berge rund um Bad Karlshafen sind ein ziemlich wirkungsvoller Schutz vor den schädlichen Strahlen des Mobilfunknetzes von E+. Ein Blick in den Morgenhimmel kündigt dem Wetterfrosch in mir jedoch freundliches Sommerwetter an. Der Wind ist auch nur noch schwach und so startet am späten Vormittag die nächste Etappe mit dem Nahziel Hann. Münden, der südlichsten Stadt Niedersachsens. Allerdings werfe ich vorher noch einen kurzen Blick auf die Altstadt von Bad Karlshafen, denn aus der Schulzeit ist mir noch im Gedächtnis geblieben, dass die Entstehung dieser Stadt irgendwie besonders war. Und richtig: Bad Karlshafen ist, auch heute noch deutlich erkennbar, keine historisch gewachsene, sondern eine am Ende des 17. Jahrhunderts im Stile des Barock auf dem Reißbrett entworfene Stadt. Namensgeber ist Landgraf Karl von Hessen-Kassel, der als protestantischer Landesherr einer größeren Zahl von aus Frankreich geflüchteten Hugenotten und aus Italien geflüchteten Waldenser in dieser Stadt eine neue Heimat schuf. Als bedeutendes Zentrum der Hugenotten in Deutschland beherbergt die Stadt das Deutsche Hugenottenmuseum in der Stadtmitte. Unabhängig vom Interesse für die Geschichte der Hugenotten lohnt sich eine Besichtigung der Altstadt, da die meisten Gebäude mehr oder weniger gut erhalten sind.

Nach der kurzen Stadtrundfahrt geht es weiter auf dem Weserradweg in Richtung Süden. Landschaftlich ist dies das schönste Teilstück des Weserradweges, da das Wesertal hier sehr eng wird und sich der Fluss durch die dicht bewaldeten Hänge des Reinhardswaldes und des Bramwaldes schlängelt. Leider verläuft der Radweg auf den letzten Kilometern vor Hann. Münden direkt an der viel befahrenen B 80, es ist also vorbei mit Ruhe und Beschaulichkeit.

Hann. Münden ist in jedem Fall sehenswert. Nicht, weil sich dort die Weser-"Quelle" befindet, wobei "Quelle" eigentlich nicht der richtige Begriff für den Ort ist, an dem die Weser entsteht, da es sich dabei um den Zusammenfluss der zwei "Quell"-Flüsse Werra und Fulda handelt. Sehenswert ist Hann. Münden, weil die überwiegend von reich verzierten Fachwerkhäusern geprägte Altstadt so romantisch ist, dass man sie sorgsam in Geschenkpapier eingepackt mit nach Hause nehmen möchte. Als eine mit wertvollen Privilegien und Rechten ausgestattete Handels- und Hafenstadt gelangte Münden, wie es im Mittelalter genannt wurde, zu bemerkenswertem Wohlstand, der durch besonders repräsentative Immobilien dokumentiert wurde. Mit anderen Worten: Ursprünglich mal richtig protzig gebaut, wird die Stadt heute mit ausreichend zeitlichem Abstand als romantisch und gemütlich wahrgenommen. Mit Beginn der Industrialisierung verlor Münden zunehmend an Bedeutung, die Bewohner hatten nicht mehr das nötige Kleingeld, um die "alten" Fachwerkhäuser durch "moderne" Bauten zu ersetzen und so erhielt sich das mittelalterliche Stadtbild weitgehend. Was die Bauwut der Neuzeit überstanden hat und im 2. Weltkrieg glücklicherweise kein Ziel von Bombardements war, ist jedoch nicht für alle Zeiten konserviert: Bei einem Großbrand am 4. Mai 2008 wurden 8 der historischen Fachwerkbauten ein Opfer der Flammen. Die entstandenen Lücken im Stadtbild werden jedoch durch -zumindest äußerlich- identische Neubauten ersetzt und in einigen Jahren wird kein Tourist  mehr die Folgen dieser Beinahe-Katastrophe bemerken.

Da ich die Altstadt von Hann. Münden bereits vor einigen Jahren ausgiebig erkundet habe, geht es heute nach einer kurzen Stadtrundfahrt und einem Besuch der Weser-"Quelle" weiter auf dem Fuldaradweg in Richtung Kassel. Der Radweg ist glücklicherweise sehr gut beschildert, denn er führt auf verschlungenen Pfaden durch Wohnsiedlungen und Kleingärten aus der Stadt und wäre sonst wohl nur schwer zu finden. Bis in die Vororte von Kassel  folgt der Weg dann direkt dem Lauf der Fulda, oftmals durch Wälder und abseits von Straßen. Zwei Unterschiede zum Weserradweg fallen sofort auf: Der Radweg ist teilweise in einem wesentlich schlechteren Zustand und die Anzahl der Radfahrer ist wesentlich geringer, d.h. ich bin wieder fast allein auf weiter Flur. Umfangreiche Bauarbeiten in Kassel führen dazu, dass ich den Radweg aus den Augen verliere und eine unfreiwillige Besichtigung dieser im Vergleich zu Hann. Münden ausgesprochen hässlichen Stadt mache. Aber kein Problem, denn nach einigen Irrungen und Wirrungen lande ich dann doch in der Fuldaaue, dem ausgedehnten und ausgedienten Gelände der Bundesgartenschau 1981, und beschließe, dort an einem der zahlreichen Seen eine ausgedehnte Mittagspause zu machen. Obwohl große Bereiche der Fuldaaue als offizielles FKK-Gelände ausgewiesen sind, komme ich nicht auf die Idee, mir die Kleider vom Leibe zu reißen, und auch nicht in den -gelegentlich zweifelhaften- Genuss des Anblicks von Nackedeis, denn dazu ist es schlicht und einfach nicht warm genug. Stattdessen ärgere ich mich über aggressive Schwäne und das, was so ein Schwan am Ende des Verdauungsprozesse im Gras versteckt in der Hoffnung, dass sich unbedarfte Radtouristen dann darauf niederlassen (ziemlich ekelig).

Richtig entspannt bin ich nach der Pause nicht, denn ich finde zwar die Fulda und den Fuldaradweg, fahre jedoch zunächst erst einmal einige Kilometer in die falsche Richtung. Es gibt zwar klare Indizien für die falsche Richtung, z.B. den Sonnenstand (ich will nach Süden, fahre jedoch nach Norden) und die Fließrichtung des Flusses (ich will flussaufwärts, bewege mich jedoch flussabwärts), aber mein Orientierungssinn hat offensichtlich noch Mittagspause und so nehme ich diese Zeichen zunächst erst mal nicht wahr. Wie heißt diese Krankheit noch mal? Braunschweiger, Hildesheimer, alles im Eimer, Alzheimer? Oder handelt es sich schlicht weg um Dämlichkeit?

Die spätere Weiterfahrt auf dem Fuldaradweg, dann ordnungsgemäß flussaufwärts, gestaltet sich sehr angenehm und folgt jeder Schleife, die sich der Fluss für seinen Weg ausgesucht hat. Überraschend ist die große Fuldaschleife oberhalb von Guxhagen, wo sich der Verlauf zweimal um 180 Grad ändert. Wenig Autoverkehr, verschlafene Dörfer und eine angenehm hügelige Landschaft begleiten mich auf der Fahrt bis zum sehenswerten Städtchen Melsungen. Ich beschließe, dass es für heute gut ist und steuere den Campingplatz "Am Badesee" in Obermelsungen an. Der Name "Am Badesee" klingt gut, aber bereits in der Rezeptionsbaracke wird mir klar, dass ich am Besten meine Ansprüche auf cirka Null herunter schrauben sollte. Tatsächlich erwartet mich dann ein schön gelegenes, aber ziemlich verrottetes Areal, das sich um drei Teiche herum gruppiert und mit einer sehr "zweckmäßigen" Ausstattung glänzt: Toiletten und Duschen (Standard: 70er Jahre oder früher) befinden sich in einem Jahrmarkt-Toilettenwagen, die Spüle steht ungeschützt und vor sich hin gammelnd im Freien, die als "Badeseen" bezeichneten Gewässer riechen nach Moder und Schlamm und bei Betreten des Badesteges besteht Einsturzgefahr (8 Euro inkl. Dusche, * in der subjektiven Wertung). Dafür ist sehr wenig los und ich kann mir mit einem anderen Alleinradler eine Wiese mit Feuerstelle und überdachtem Essplatz teilen. Der Kollege aus dem Zelt nebenan erzählt, dass er drei Tage durch den Thüringer Wald gefahren ist, immer rauf und runter, und nun konditionell völlig am Ende sei. Und die letzten 30 Kilometer, die ihn nun noch von Heim und Bett trennen, sind eine für ihn heute nicht mehr machbare Distanz. In der Tat hinterlässt er einen wirklich erschöpften Eindruck und noch weit vor Sonnenuntergang verkriecht er sich in seinen Schlafsack.

Die später am Abend noch telefonisch abgefragte Wetterprognose (donnerwetter.de) ist katastrophal: Für meinen Weg in Richtung Süden ist mehrtägiger Dauerregen angesagt. Vorsichtshalber beschließe ich, früh aufzustehen, und ich nehme mir vor, auch bei Regen weiterzufahren, denn ich bin ja kein Weichei. Oder doch?