5. Tag (Samstag, 16.08.): Fulda - Ochsenfurt, 132 km

Braucht der Mensch im Leben ein Ziel? Eine ziemlich philosophische Fragestellung, auf die ich am frühen Morgen nicht so die richtige Antwort habe. Ich werde aber sporadisch darüber nachdenken und später noch einmal darauf zurück kommen, ganz bestimmt. Für eine Vertagung weniger geeignet ist die Frage, wie ich heute weiterfahre und wo der Endpunkt der heutigen Tagesetappe sein könnte. In den letzten Tagen bin ich einfach so vor mich hin gefahren, ohne Ziel und Überlegung. Aber heute locken einige interessante Alternativen und ich muss mich entscheiden.

1. Ab in die Rhön, eine Bergtour fahren: Wäre bestimmt ganz spannend, aber ich hätte dann einen Tag weniger für eine "echte" Bergtour später in den Alpen oder in Italien oder wo auch immer ich wirklich erwachsene Berge finde.

2. Über Gersfeld und Bischofsheim an die Saale, weiter über Bad Kissingen nach Schweinfurt: Interessant, kommt in die engere Wahl.

3. Wie 2., aber nach Überquerung der Saale durch die Hassberge nach Hassfurt: Zuviel Hass! Oder: zu hässlich! Wie auch immer, ob Hass oder hässlich, beides reizt mich heute nicht. Eine irrationale Argumentation? Auch egal, die Strecke kommt trotzdem nicht in Frage.

4. So schnell wie möglich durch das Sinntal bis an den Main bei Gemünden und dann weiter in Richtung Würzburg: Ich war noch nie mit dem Rad an diesem Teilstück des Mains, da ich die Mainschleife zwischen Gemünden und Schweinfurt anlässlich einer Befahrung des Mainradweges vor einigen Jahren mit einer Fahrt durch das Werntal abgekürzt habe. Dieses mir noch nicht bekannte Teilstück des Mainradweges kennen zu lernen erscheint mir noch interessanter als die Alternative 2. Und an dieser Stelle hätte J. C. gesagt: "Alea jacta est!"

Das Überlegen und Entscheiden ist doch ziemlich stressig und ein ausgiebiges Frühstück zum Ausgleich zwingend erforderlich. Es ist somit bald Mittag als ich mich auf den Weg in Richtung Sinntal mache. Dafür müssen zunächst einige Hügel überquert und einige Abfahrten bewältigt werden. Mit mehr als 60 km/h fahre ich auf so einer Abfahrt durch eine Radarfalle in einem Tempo 50 Bereich, die bedauerlicher Weise aber kein automatisches S/W-Portrait für mich anfertigt. Ich bin enttäuscht, kann mich jedoch damit trösten, dass die Qualität dieser unprofessionellen Fotos sowieso meist sehr schlecht ist.

Bei Oberzell ist dann das Sinntal erreicht, d.h. es geht nun tendenziell abwärts bis an die Mündung der Sinn in den Main. Es gibt im Sinntal einen gut ausgeschilderten und abseits der Straße verlaufenden Radweg. Da dieser Radweg zwar landschaftlich reizvoll, aber ziemlich langsam ist, entscheide ich mich für die nur mäßig befahrene Straße und es geht schnell voran. Zusätzlichen Schub verleiht ein Gewitter, das sich in der Zwischenzeit über Rhön und Spessart ausgebreitet hat und mich mit drohend schwarzen Wolken in Richtung Main verfolgt. Kurz vor Gemünden treffe ich dann die überaus dämliche Entscheidung, ohne die Karte eines Blickes zu würdigen der Straße, und nicht dem Radweg, zu folgen. Dämlich ist diese Entscheidung deshalb, weil ich mir damit eine völlig überflüssige Bergetappe einhandle, während der Radweg im Tal verläuft und Gemünden ohne weitere Steigungen erreicht. Die für einen Blick auf die Karte erforderliche Zeit wäre also eine gute Investition gewesen...

In Gemünden treffe ich auf den Mainradweg, der ähnlich beliebt und belebt wie der Weserradweg ist. Auch hier fahren die meisten Radtouristen flussabwärts, so dass ich mit Fahrtrichtung flussaufwärts auf Gegenverkehr achten muss. Davon abgesehen freue ich mich über meine Entscheidung vom Vormittag, denn dieses Teilstück des Mains bis Würzburg ist landschaftlich sehr reizvoll. Auch das Wetter unterstützt die gute Laune, denn trotz einer ausgedehnten Mittagspause am Flussufer holt mich das Gewitter nicht mehr ein. Am späten Nachmittag erreiche ich dann Würzburg. Da es ein Samstag ist wird das Mainufer von vielen Menschen in Freizeit- und Wochenendlaune bevölkert. Ich verzichte auf eine an und für sich lohnende Stadtbesichtigung, da ich dies bereits vor einigen Jahren anlässlich einer Tagung sowohl zu Tages- als auch zu Nachtzeiten erledigt habe, und fahre weiter bis Ochsenfurt. Dort stutze ich beim Anblick der Alten Brücke, die mich spontan an Avignon erinnert: Wie in Avignon ist die Brücke eigentlich keine Brücke, denn sie erfüllt nicht ihre ureigenste Aufgabe, die Flussufer miteinander zu verbinden. Aber im Gegensatz zu Avignon, wo die Brücke nie fertig gestellt wurde, hat in Ochsenfurt der Abrissbagger zugeschlagen und eine ehemals bestehende, aber nun baufällige Konstruktion bis auf einige Brückenreste am Ufer "rückgebaut".

Von den zwei in Ochsenfurt vorhandenen Campingplätzen entscheide ich mich für den Platz mit dem merkwürdigen aber klangvollen Namen "Polisina", der an ein anspruchsvolles Hotel angegliedert ist und sich am Waldrand auf einer Anhöhe über dem Maintal befindet (8,10 Euro inkl. Dusche, *** auf der subjektiven Campingskala). Ich bin offensichtlich der einzige Tagesgast auf diesem sonst nur von Dauercampern bevölkerten Platz und nachdem einige herumkreischende Kinder von den Eltern eingesammelt wurden, kehrt eine auffallende Stille ein. Auffallend deshalb, weil im Maintal durch Straßen-, Schienen- und Schiffsverkehr immer eine gewisse Geräuschkulisse vorhanden ist, an die ich mich im Laufe des Tages gewöhnt habe und die nun "fehlt". Etwas gruselig sind gelegentliche Schreie aus dem nahe gelegenen Wald, wo sich vermutlich irgendwelche Tiere vergewaltigen oder zum Zwecke der Nahrungsaufnahme gegenseitig abmurksen. So ganz genau will ich das aber auch nicht wissen. Und das Viehzeug soll auch ja im Wald bleiben, da wo es hin gehört.

Erschöpft verkrieche ich mich bereits früh in meinen Schlafsack und vergesse dabei völlig das Schauspiel einer partiellen Mondfinsternis. Im Nachhinein tröste ich mich damit, dass es bestimmt wolkig war und ich aller Wahrscheinlichkeit nach sowieso nicht viel gesehen hätte.