6. Tag (Sonntag, 17.08.): Ochsenfurt - Bamberg, 88 km

Vor der Weiterfahrt auf dem Mainradweg mache ich einen kurzen Abstecher in das historische Zentrum von Ochsenfurt, wo sich die Häuser dicht gedrängt innerhalb der ehemaligen Stadtmauer gruppieren. Das ganze Ensemble wirkt beinahe bedrohlich auf mich und ich bin froh, selbst nicht in solch einer drangvollen Enge zu wohnen und zu leben. Mehr als nur 'beinahe bedrohlich' ist gelegentlich der nahe Fluss, der zwar als Lebens- und Verkehrsader für die Historie des Ortes verantwortlich ist, aber bei Hochwasser zu einer echten Gefahr wird. Zahlreiche Hochwassermarken, in beeindruckender Höhe an den Hausmauern angebracht, zeugen von Überschwemmungen und Katastrophen, von denen die Einwohner nicht nur in Zeiten des Klimawandels heimgesucht wurden. Bei sommerlichem Wetter und ohne den angekündigten Dauerregen ist von Hochwasser glücklicherweise nichts zu sehen. Möglicherweise bin ich auch zu pessimistisch oder die Hochwassererfahrung aus Worcestershire im Sommer des vergangenen Jahres beeinflusst meine Wahrnehmung. Jedenfalls beschließe ich spontan, heute das Maintal zu verlassen und durch den Steigerwald in Richtung Bamberg zu fahren. Ein zusätzlicher Aspekt beeinflusst diese Entscheidung: Die Mainschleife hat bei Ochsenfurt ihren südlichsten Punkt erreicht und das Flusstal verläuft von nun an bis Schweinfurt in nördlicher Richtung.

Schreck lass nach, NORDEN???

"Hoch im Norden, hinter den Deichen, bin ich geboren.
Immer nur Wasser, ganz viele Fische,
Möwengeschrei und Meeresrauschen in meinen Ohren. ...

Ja es war ja auch ganz schön und das Klima war gesund,
und doch hab ich mir gedacht:
Hier wirst Du auf die Dauer nur Schipper oder Bauer,
hier kommst Du ganz allmählich auf den Seehund."

(Udo Lindenberg, "Hoch im Norden", Daumen im Wind, 1972)

"Will ich nach Norden?", frage ich mich laut und deutlich und gebe mir auch gleich die ehrliche und klare Antwort: "Nein! Ich will nach SÜDEN." Denn Norden bedeutet nicht nur für Udo Lindenberg Polarluft, Wind und Wolken, kaltes Nordseewasser, herb-bitteres Jever Bier, Schlick und Watt, während SÜDEN als Synonym für mediterrane Lebensfreude, wohlige Wärme zu Wasser und zu Lande, laue Nächte, bayerisches Bier und italienischer Rotwein steht. Ich: Ein bekennender Warmduscher und Weichei auf der Flucht vor dem rauen Norden.

Und es gibt noch einen weiteren Grund, dem Main und dem Mainradweg nicht weiter zu folgen: Die Flusstalsonntagsradler. Wieso? Ich versuch mal eine kurze Zustandsbeschreibung. Also: Bei einem Flusstalsonntagsradler handelt es sich um ein menschliches Wesen männlichen oder weiblichen Geschlechts, das üblicherweise der Altersgruppe Ü55 zuzuordnen ist. Nur eine kleine Minderheit ist der noch nicht selbstbestimmten präpubertären Altergruppe U12 zuzuordnen. Die Altergruppen dazwischen, d.h. Ü12 bis U55, sind nur zu besonderen Anlässen wie z.B. dem Vatertagsausflug anzutreffen, mithin nicht heute. Das Verbreitungsgebiet des Flusstalsonntagsradlers umfasst die Radwege entlang der großen deutschen Flüsse, insbesondere Weser, Rhein, Elbe, Main und Donau sowie die angrenzenden gastronomischen Einrichtungen, die zum Zwecke der Nahrungsaufnahme, zum Schutz vor Witterungseinflüssen (zu warm, zu kalt, Wind, Regen, Sonne) und zum Schutz vor der Dunkelheit und den Gefahren der Nacht aufgesucht werden.

Flusstalsonntagsradler treten häufig in Rudeln auf, die von einem Leitradler geführt werden. Nur in Rudeln mit ausschließlich weiblichen Flusstalsonntagsradlerinnen ist eine Leitradlerin zu finden, in gemischtgeschlechtlichen oder rein männlichen Rudeln ist die Führung immer einem Leitradler vorbehalten. Der Leitradler fährt immer an der Spitze des Rudels und ist mit allen Insignien der Macht ausgestattet. Insbesondere verfügt er über die Radlerkarte, eine Art bunt bebilderter Atlas, auf der der Streckenverlauf, alle Steigungsstrecken mit mehr als einem Meter Höhendifferenz, jegliche gastronomische Einrichtung von der Frittenbude bis zum 5-Sterne-Hotel, die so genannten "Sehenswürdigkeiten" sowie jeder Maulwurfshügel akribisch beschrieben sind. Die Fähigkeit, sich allein unter Zuhilfenahme der Radlerkarte im Flusstal zu orientieren und den Radweg zu finden, sichert dem Leitradler die uneingeschränkte Bewunderung vor allem der weiblichen Rudelmitglieder. Der Leitradler entscheidet über Pause oder Fahren und ist sich im Übrigen der Bedeutung seiner Leitungsfunktion und der daraus resultierenden Verantwortung durchaus bewusst.

Der straffen Führung durch den Leitradler ist es wohl zu verdanken, dass Flusstalsonntagsradler wesentlich disziplinierter auftreten als Schaffellsattellenkerradiohollandradler: Nur gelegentlich wird die gesamte Breite des Radwegs eingenommen und oftmals wacht ein Rudelmitglied über die Verkehrsentwicklung, um bei drohendem Gegenverkehr oder Überholmanövern deutliche Lautzeichen zu geben. Dezentes Anbrüllen vor dem Überholen oder im Gegenverkehr ist somit meist nicht erforderlich.

Typische Flusstalsonntagsradler sind auf Grund ihrer Altergruppenzugehörigkeit nicht mehr (Ü55) oder noch nicht (U12) paarungsbereit. Trotzdem herrscht im Rudel häufig eine, gelegentlich durch kontrollierten Alkoholkonsum geförderte, laute und ausgelassene Stimmung, die in anderen Altersgruppen als Balzverhalten verstanden werden könnte. Mitglieder anderer Rudel seien gewarnt, denn es handelt sich hierbei um ein komplexes Gruppenverhalten, mit dem lediglich die Erinnerung an die Paarungszeit gepflegt wird, keinesfalls jedoch um die Signalisierung tatsächlicher Paarungsbereitschaft. Das Verhalten der Flusstalsonntagsradler ähnelt also in vielen Punkten dem der Kegelbrüder und -schwestern auf Kegeltour und es liegt die Vermutung nahe, dass ein Flusstalsonntagsradler zwischen Oktober und Mai zum Kegelbruder bzw. zur Kegelschwester mutiert.

Ein Rudel von Flusstalsonntagsradlern kann nicht nur optisch und akustisch, sondern auch olfaktorisch eindeutig wahrgenommen werden: Männliche Rudelmitglieder verströmen den Geruch irgendwelcher Aftershaves und Eau-de-Toilettes und weibliche Mitglieder riechen nach Parfum und diversen Kosmetikartikeln. Gelegentlich ist im Vorbeifahren auch die Aromanote bekannter Waschmittel und Weichspüler zu erkennen. Keinesfalls riecht der Flusstalsonntagsradler so, wie ein Radler an heißen Sommertagen durchaus riechen könnte: Nach Schweiß und Anstrengung. Obwohl wissenschaftlich noch nicht eindeutig nachgewiesen, könnte diese olfaktorische Maskerade auch im Zusammenhang mit der Simulation des Balzverhaltens stehen.

In vielen Punkten zwar verhaltensähnlich, unterscheidet sich ein Flusstalsonntagsradler vom Schaffellsattellenkerradiohollandradfahrer ganz wesentlich im Hinblick auf das Verbreitungsgebiet und die Ausrüstung. Der Schaffellsattellenkerradiohollandradfahrer kommt im deutschen Nordwesten vor, fährt ein vergleichsweise gewichtiges Holland- oder Touren-Rad und kleidet sich vornehmlich bieder mit so genannten Trecking-Klamotten. Der Flusstalsonntagsradler ist, wie der Name schon sagt, in den Flusstälern verbreitet, fährt ein möglichst leichtgewichtiges und technisch perfektioniertes Sportrad, gelegentlich sogar mit Unbequemsattel, und kleidet sich sportlich mit so genannten Funktions-Klamotten. Eine Verwechselungsgefahr besteht somit nicht.

Flusstalsonntagsradler nerven mich heute irgendwie und so gibt es nach der Durchfahrt von Kitzingen überhaupt keinen Anlass, dem Mainradweg noch einen Meter weiter zu folgen. Meine Vorstellung zum Verlauf des heutigen Tages haben sich derweil konkretisiert: Ein Abend auf dem weltbesten Bierkeller in Bamberg ist eine hervorragende Motivation für die Weiterfahrt in Richtung Steigerwald. Zu meiner Überraschung finde ich mich auf einem sehr gut beschilderten Radweg wieder, der mich über Groß- und Kleinlangheim nach Wiesentheid führt. Weiter geht es auf geringst befahrenen Kleinststraßen über Altenschönbach nach Schönaich, wo ich nach einer kurzen Steigungsstrecke die Höhe des Steigerwaldes erreiche.

Die Mittagspause verbringe ich in absoluter Stille am Waldrand. "Die Sonne scheint mir auf den Bauch, das soll sie auch, ich seh' darin kein Drama.", zitiere ich vor mich hin (Falco, "Hinter uns die Sintflut", Aus, stop, retour ..., 1982), zähle die Schmetterlinge und wache irgendwann wieder auf. Urlaubsmäßige Entspannung scheint mich endgültig eingeholt zu haben.

Hinter Schönaich verlasse ich die Straße und nehme einen Waldweg in Richtung Ebrach, der zunächst durchaus fahrbar ist, im weiteren Verlauf jedoch immer schmaler wird, bis ich schließlich nur noch auf einem überwucherten Trampelpfad durch dichtes Buchengestrüpp talwärts rutsche. Am Ortsrand von Ebrach angekommen breche ich mit ziemlich viel Krach aus dem Gehölz und erschrecke dabei zwei vorbeiradelnde weibliche Teenies, die mich offensichtlich für einen halbkriminellen Landstreicher, wenn nicht gar für einen Serienvergewaltiger auf Hafturlaub halten und fluchtartig Reißaus nehmen. So viel Scheu kommt mir schon komisch vor, denn ich sehe zwar nicht wirklich gepflegt und sanftmütig, aber auch nicht SO abgerissen und gefährlich aus. In der Ortsmitte von Ebrach angekommen wird mir dann jedoch klar, dass dieser Ort einen klaren Bezug zur Kriminalität hat. Die Klosteranlage wird nämlich nicht mehr zum Einsperren von Mönchen und Nonnen, sondern seit Jahrzehnten als Knast genutzt. Eine sinnvolle Umnutzung der vorhandenen Baulichkeiten, denn große Umbauten waren offensichtlich nicht erforderlich.

Der weitere Weg führt abwärts im Tal der Ebrach, zunächst mit deutlichem Gefälle auf der B 22, dann in gemächlichem Sinkflug von Burgwindheim bis Burgebrach auf der Trasse einer stillgelegten Bahnlinie. Die Sonne scheint, es ist warm und rollt sich angenehm. Kurzum, alles ist super, bis mich ein Mountainbiker einholt und beginnt vollzuquatschen. Ein sehr gepflegter Typ mit solariumgebräuntem, leicht muskulösem Körper, frisch gestutztem Haupthaar und jetzt das Beste: frisch eingeölten und rasierten Beinen! Was für eine Schwuchtel... Um bloß keine Hoffnungen auf einen Quickie am Wegesrand aufkommen zu lassen, gebe ich mich norddeutsch-arrogant-einsilbig und teste auch mehrfach das erprobte: "Ach was..." als absoluten Kommunikationskiller. Besonders ausdauernd ist mein heißer Begleiter allerdings nicht und so habe ich bereits nach wenigen Kilometern wieder Ruhe.

Ohne weitere Begegnungen geht es weiter bis Bamberg auf Wirtschafts- und Radwegen entlang größerer Straßen. Dabei ist dann doch noch der ein oder andere Hügel zu befahren, aber trotzdem erreiche ich den Campingplatz im Bamberger Stadtteil Bug (*** auf der nach oben begrenzten Campingskala, 8,30 Euro inkl. Dusche) bereits am Nachmittag. Für das Zelt finde ich einen schönen Platz direkt an der Regnitz. Leider schmerzt mein rechtes Knie ein wenig, offensichtlich Überlastung. Ich hoffe, dass die recht kurze Tagesetappe heute ausreicht, um morgen wieder voll fit zu sein.

Zum Dinner fahre ich dann mit dem Fahrrad durch den Hain, den Bamberger Stadtwald, in die Innenstadt und hinauf auf den Spezi-Keller, wo neben einem hervorragenden Bier auch der beste Ausblick auf Dom, Michelsberg und Stadt lockt. "Bier, in Maßen genossen, kann auch in Mengen nicht schädlich sein!", oder so ähnlich -den genauen Wortlaut habe ich leider vergessen- lautet der medizinische Rat, und daran halte ich mich auch. Einige vegetarische Brotzeiten und Liter später lasse ich mich wieder in die Stadt hinunter rollen, denn dort liegt das Jazz- und Bluesfestival in den letzten Zügen. Blues passt als Musik der Südstaaten überhaupt nicht in die barocke Bamberger Altstadt, trotzdem ist die Stimmung enorm und die Musiker geben alles. Die Sperrstunde droht und ich schwanke grinsend für eine weitere Bierprobe ins Schlenkerla, eine weitere der insgesamt neun Bamberger Brauereien. Da um diese Uhrzeit mehr oder weniger alle Passanten schwanken und grinsen, zumindest habe ich diesen Eindruck, fällt mein Zustand nicht weiter auf. Für die Rückfahrt zum Campingplatz am späten Abend reicht meine Körperbeherrschung gerade noch aus, allerdings beanspruche ich die gesamte Breite der Wege durch den ziemlich finsteren Hain.