8. Tag (Dienstag, 19.08.): Beilngries - München, 134 km

Was tun mit toten Enten? Peking-Ente, Ente süß-sauer, Entenbrust zart gebraten, Ente gefüllt. Aber nein, ich ernähre mich ja vegetarisch und die Entengroßfamilie, die heute bereits seit dem ersten Morgengrauen den Nahbereich um mein Zelt mit unüberhörbarem Geschnattere inspiziert, braucht keine Angst zu haben, von mir verspeist zu werden. Aber ein bisschen würgen könnte ich sie schon, denn ich hätte gerne noch eine Stunde geschlafen. Im Gegensatz zu den Enten in Bamberg, die gestern in breitem Fränkisch schnatterten, höre ich hier ganz deutlich urbayerische Laute. Passend, denn ich befinde mich ja im nördlichsten Zipfel von Oberbayern. Aber auch gleichzeitig unpassend, denn mit Oberbayern hat die Landschaft um Beilngries nichts zu tun, weder Almen noch Gipfelkreuze sind zu sehen, niemand trägt Dirndl oder klebt sich die felligen Jagdtrophäen von alpinen Paarhufern an den Hut. Aber verwaltungstechnisch befinde ich mich bereits im Regierungsbezirk "Oberbayern", worauf ein kleines Schild am Radweg kurz vor Beilngries bereits gestern mit Stolz hingewiesen hat.

Um 20 Minuten vor 10 Uhr, also für meine Verhältnisse ausgesprochen früh und noch bevor die "kleinen Scheißer" den Radweg unsicher machen, sitze ich wieder auf dem Sattel, um den Anstieg aus dem Altmühltal nach Paulushofen und weiter auf der mäßig befahrenen B 299 nach Pondorf zu bewältigen. Kurz vor Pondorf erinnert mich ein Wegweiser an das meistfotografierte Objekt der Region: Die Bavaria Buche, eine 500 bis 700 Jahre, vielleicht auch 900 Jahre alte Rotbuche mit einer enormen Krone, sehr fotogen inmitten von Feldern, Hügeln und einer reizvollen Naturlandschaft gelegen. Das zumindest ist die Erinnerung, die sich durch zahlreiche, in den 80er Jahren populäre Poster gebildet hat, denn die Bavaria Buche war einst, in Zeiten des Waldsterbens und der Sorge um den deutschen Wald, ein Sinnbild für Natur- und Umweltschutz und die Ökobewegung der frühen Jahre.

Spontan fällt mir dabei wieder Wilfried Bauers Fotoreportage über uralte Bäume ein, die vor mehr als einem Vierteljahrhundert (1980) in "Geo" abgedruckt wurde. Unter anderem waren dort auch vier meisterhafte Portraits der Bavaria Buche zu finden, jeweils ein Bild im Frühling, Sommer, Herbst und Winter. Ein kraftstrotzendes Gewächs im Wechsel der Jahreszeiten, das die Jahrhundert überstanden hat und dem Nichts und Niemand etwas anhaben konnte? So war der Eindruck, der Niedergang nahte jedoch langsam und leise. Das Waldsterben wurde als Gegenstand der öffentlichen Diskussion zwar vom Klimawandel verdrängt, aber der Gesundheitszustand der Bavaria Buche verschlechterte sich von Jahr zu Jahr. Auch die Popularitätswerte von Wilfried Bauer verschlechterten sich, da seine Fotoreportagen, einstmals prägend für Zeitschriften wie "Stern" und "Geo" sowie das Magazin der "FAZ", als für den heutigen Geschmack zu bieder gelten. Im Jahre 2006 passierte es dann: Wilfried Bauer sprang aus dem Fenster seiner Wohnung im vierten Geschoss und war auf der Stelle tot, während ein Sturm die Bavaria Buche so schwer schädigte, dass Rettungsmaßnahmen wirkungslos blieben und seitdem der Prozess des Absterbens nicht mehr aufzuhalten ist. Sanierungsmaßnahmen werden nicht mehr durchgeführt und die "Baumpfleger", die zur Sicherung des Sterbebettes großflächig einen Zaun um die Bavaria Buche gezogen haben, beschränken sich auf die Pflege und die Verbreitung der Nachfolger. So verschwinden eine Ikone der Ökobewegung und deren prominentester Promoter aus dem Leben.

Leicht nachdenklich setze ich meine Fahrt fort, aber nicht ohne vorher noch einige (Erinnerungs-) Fotos gemacht zu haben. Südlich von Pondorf beginnt mit dem Pondorfer Tal die Abfahrt in Richtung Donau, die ich am Mittag bei Pförring überquere. Zuvor decke ich mich noch mit allen Zutaten für eine ordentliche Brotzeit ein, in der Erwartung, direkt an der Donau, vielleicht mit den Füßen leicht im Wasser plätschernd, ein lauschiges Plätzchen für eine Mittagspause zu finden. Aber Fehlanzeige, denn das Donauufer ist sehr naturbelassen zugewuchert mit Schilf, Gräsern und anderem Grünzeugs, an den meisten Stellen morastig und schwer mückenverseucht. Also fahre ich erst einmal hungrig weiter, vorbei an einigen stinkenden petrochemischen Betrieben. Hinter Mönchsmünster erreiche in den Dürnbucher Forst, ein ausgedehntes Waldgebiet, das auf einer fein geschotterten Piste durchquert werden kann. Mitten im Wald, gegenüber der Mariahilfkapelle, entdecke ich unter hohen Buchen ein Rastplätzchen mit Tisch und Bänken, das sich für eine Mittagspause optimal eignet. Ein bereits anwesendes Pärchen mit Hund ist über meine Anwesenheit nicht besonders glücklich und verlässt alsbald den Ort des Geschehens. Offensichtlich sehr zum Bedauern des mitwandernden Hundes, der sich schon einen Anteil an der Brotzeit erhofft hatte. Ich mache mich hungrig über Brot und Käse her und zudem es mir so bequem wie möglich. Bislang habe ich Schattenplätze vermieden, aber heute ist es fast 30 Grad warm und zunehmend schwül, für einen Sonnenplatz also zu warm und hier im Wald genau richtig temperiert.

Gelegentlich erscheinen Einheimische, die in der Mariahilfkapelle verschwinden und nach einigen Minuten wieder erscheinen. Neugierig warte ich einen Moment ab, in dem sich niemand in der winzig kleinen Kapelle aufhält und betrete den maximal fünf Quadratmeter großen Raum. Neben der üblichen Ausstattung (Altar, Kerzen, Statue usw.) bemerke ich zahlreiche Bilder und Notizen, die von Besuchern dort als Dank für erfüllte Bitten platziert wurden. In einem Buch können Hilfsgesuche aller Art an Maria mit der freundlichen Aufforderung zu Beachtung und Erfüllung aufgeschrieben werden. Beispielsweise bittet Heidi in wackeliger Schrift und mit zahlreichen orthografischen Fehlern darum, dass ihre Kinder die richtigen Partner finden mögen. Weit entfernt davon, mich darüber lustig zu machen, bin ich mir nicht ganz sicher, was die Kapelle und der so gelebte Marienkult mit dem Christentum zu tun hat. Aber wie dem auch sei: Diese Art von Frömmigkeit ist in der ländlichen, tendenziell eher weniger gebildeten Bevölkerung offensichtlich tief verwurzelt und weit verbreitet. Ich stelle mir vor, mit welchen Schwierigkeiten jemand zu kämpfen hat, der (oder die) diese Frömmigkeit in der sozialen Enge einer dörflichen Gemeinschaft weder toleriert noch akzeptiert. München, die weltoffene Großstadt, ist nicht nur mein Tagesziel, sondern sicherlich auch das Ziel vieler Menschen, die mit diesen Verhältnissen auf dem Lande nicht klar kommen. Back to the roots, zurück auf's Land? Besser vorher noch mal darüber nachdenken...

Am südlichen Rand des Dürnbucher Forstes treffe ich bei Elsendorf auf ein schmales Gewässer namens Abens, das sich mit vielen Schleifen durch die Landschaft schlängelt und zudem Namensgeber für einen Radweg ist. Diesem Weg folge ich über Mainburg bis Rudelzhausen und durchquere dabei die Hallertau, das globale Zentrum des Hopfenanbaus. Rechts und links des Weges: Hopfen. Vorne, Hinten? Hopfen. Überall Hopfen. Genüsslich stelle ich mir vor, welch ungeheuren Mengen an Bier damit produziert werden können. Trotzdem ist Hopfen auf dem Weltmarkt ein knappes Gut, dessen Preis in den vergangenen Jahren stark gestiegen ist, was sicherlich in naher Zukunft auch mal wieder zu einer Erhöhung der Bierpreise führen wird. Und als Marktwirtschaftler hoffe ich, dass die Produzenten auf den Preisanstieg reagieren, jedes verfügbare und geeignete Stück Land für den Anbau nutzen und damit eine Verknappung dieses Rohstoffes verhindern. Auf dass ich auch in Zukunft beruhigt mein Bierchen trinken kann.

In Rudelzhausen folge ich einem einheimischen Radler, der auf frisch geteerten Wegen in Richtung Au i. d. Hallertau verschwindet. Auf diese Weise lande ich wieder einmal auf einer stillgelegten Bahntrasse, die seit einiger Zeit als Radweg genutzt wird, der Bockel-Radweg. Bis Au ist die Streckenführung super, dann verliert sich der Weg zwischen bewaldeten Hügeln und Feldern und ich benutze ab Attenkirchen die leider stark befahrene und daher für Radler eigentlich nicht geeignete B 301 über Zolling bis Freising. Im Westen drohen Gewitterwolken, die Temperatur liegt bei 30 Grad, die Luftfeuchtigkeit ist hoch und ich habe keine Lust auf eine Stadtbesichtigung von Freising. Deshalb geht es direkt an die Isar und auf dem, in kühlen Auwäldern verlaufenden, Isarradweg in Richtung München. Auf den ca. 37 km bis München fahre ich ausschließlich auf dem Radweg, immer am Ufer der Isar und ohne jeglichen Autoverkehr. Nach dem Stress auf der B 301 eine echte Erholung. Leider schmerzt mein rechtes Knie, offensichtlich wegen Überlastung, so dass ich nicht mehr mit voller Geschwindigkeit fahre und ab Garching beginnt ein leichter und warmer Regen. So bin ich erst im Dämmerlicht beim Aumeister im Englischen Garten. Die Weiterfahrt nach Schwabing ist auch ohne Stadtplan relativ unproblematisch, da mir einheimische Hundeführer oder hundegeführte Einheimische, so genau ist das im Halbdunkeln nicht zu erkennen, weiterhelfen können. Und die letzten Straßenecken umrunde ich mit Guidos telefonischer Hilfestellung.

Kurz nach meiner Ankunft erreicht ein Gewitter die Stadt und ich bin froh, dieses Ereignis nicht auf einem Campingplatz life mitzuerleben. Der Abend wird noch lang, da es viel zu essen und zu trinken und noch mehr zu erzählen gibt. Guido ist bekennender Schlickrutscher, dem die Sitten und Gebräuche der "Schluchtenscheißer" (O-Ton Guido mit breitem Grinsen) und der artverwandten bajuwarischen Volksstämme zwar bekannt sind, der sich jedoch nicht damit identifizieren kann und deshalb weiterhin typisch norddeutsche Verhaltensweisen pflegt. Und so gibt es selbstverständlich ein kühles Jever-Bier anstelle eines Produktes der bayerischen  Braukunst. Und wochenendliche Bergtouren im Sommer oder Schilaufen im Winter sind auch nicht unbedingt sein Ding. "Hoch im Norden" von Udo Lindenberg ist ihm ebenfalls bekannt. Allerdings zitiert er daraus, anders als ich, gerne folgende Zeilen:

"Und nun sitz ich hier im Süden, und so toll ist es hier auch nicht.
Und eine viel zu heiße Sonne knallt mir ins Gesicht.
Nein, das Gelbe ist es auch nicht
und ich muss so schrecklich schwitzen.
Ach, wie gern würd' ich mal wieder
auf einer Nordseedüne sitzen..."