10. Tag (Donnerstag, 21.08.): München - Arzbach, 87 km

"Wer früh aufsteht wird nur früher müde", denke ich mir und drehe mich lieber noch einmal um. Auch Guido hat keinen Stress und so geht es erst um 10:00 Uhr wieder auf die Straße. Es ist ein wunderbar sonniger Morgen und ich nutze die Gelegenheit für einige Fotos im noch wenig bevölkerten Englischen Garten. Die ca. 7.500 Plätze im Biergarten am Chinesischen Turm sind nur spärlichst besetzt und es kommt mir der Gedanke, dass sich grundsätzlich jetzt und hier die Einnahme eines Frühbiers, nach abendlichen Saufgelagen von Guidos Schwester gerne auch Konterbier genannt, anbietet. Und schon passiert es, "es erscheinen Engelchen und Teufelchen auf meiner Schulter. Engel links, Teufel rechts. Lechz." (Fettes Brot,  "Jein", 1996)

Engelchen ins linke Ohr: "Hey Alter, Bier am Lenker, und dann noch am frühen Morgen, das geht ja gar nicht."

Teufelchen ins rechte Ohr: "Was schaden schon zwei Liter oder drei? So jung bist Du nie wieder hier!"

Wieder Engelchen von links: "Wenn Du in den SÜDEN willst, solltest Du Dich nicht bereits in München besaufen. Move your ass!"

Darauf Teufelchen von rechts: "Spießer, Spaßbremse, Langweiler, Weichei!"

Jetzt das Weichei, also ich: "Soll ich's wirklich machen, oder lass ich's lieber sein?"

Das Argument "SÜDEN" wird im Großhirn ausgiebig geprüft und für überzeugend befunden, somit lautet die Antwort nicht "Jein!", sondern "Weiter!". Engelchen freut sich. Teufelchen schmollt, aber nur für kurze Zeit, denn nach nur wenigen Kilometern auf dem Isarradweg überzeugt er mich spontan von der absoluten Notwendigkeit einer Sonnenpause am Isarufer in Thalkirchen, wo ich mich erst am frühen Nachmittag wieder verabschiede. Die Pause nutze ich erst einmal für ein gepflegtes Nickerchen und eine philosophische Betrachtung über den Alterungsprozess des menschlichen Körpers am Beispiel der herumliegenden Nackedeis. Während eines Badeversuchs im reichlich kalten und zudem auch noch stark strömenden Isarwasser gerate ich unversehens in ein Gespräch mit anderen Badegästen. Offensichtlich haben sie erkannt, dass auf meiner Stirn kein fettes "F" prangt und deshalb keine sexuelle Belästigung zu befürchten ist und so siegt die Neugier, wer denn wohl dieser Typ mit dem bepackten Fahrrad sein mag. Ich bin schnell als Norddeutscher geoutet, denn der bajuwarische Mensch sieht anders aus und vor allem: er / sie spricht anders. Und so entwickelt sich eine kurzweilige Diskussion über die Vor- und Nachteile der Stadt (nämlich München) im Vergleich zu Norddeutschland und über das Leben am Rande der Berge. Zu meinem größten Erstaunen befindet sich unter den Badegästen kein "echter", d.h. gebürtiger Münchner. Alle sind irgendwann einmal in die Stadt gezogen, weil es auf dem Lande im Bayerischen Wald, in der Pfalz oder im Allgäu keine Arbeit und keine Zukunft gab oder es in der dörflichen Gemeinschaft zu "eng" wurde.

In der Zwischenzeit ist mir eine Präzisierung des heutigen Fahrziels gelungen: Weiter auf dem Isarradweg nach Bad Tölz. Damit verabschiede ich mich indirekt auch vom Großglockner, denn der Isarradweg führt definitiv nicht in seine Richtung. Da ich oberhalb von Thalkirchen offensichtlich auf dem falschen Ufer fahre, verliere ich auf der Weiterfahrt nach Kloster Schäftlarn irgendwo den Isarradweg. Ich registriere zwar, dass irgend etwas mit der Streckenführung nicht stimmt, denn an Stelle einer asphaltierten Straße befahre ich nun steile und rutschige Waldwege ohne Beschilderung. Da eine Brücke zum anderen Ufer nicht zu sehen ist, sich auch keine Alternativen auf meinem Ufer anbieten und ich zudem keine Lust habe zurückzufahren, entscheide ich mich für die urmännliche Variante: Augen zu und durch. So erreiche ich das Kloster Schäftlarn auf schlammigen Waldwegen mit etwas mehr Anstrengung als eigentlich erforderlich. Bescheuerterweise verfahre ich mich sofort wieder, aber diesmal reagiere ich weniger urmännlich, kehre sofort um und orientiere mich fortan nicht mehr an irgendwelchen Beschilderungen, sondern nur noch am Verlauf des träge fließenden Isarkanals.

Die Stimmung auf dem Kanal ist prima: Einige Flöße sind mit Bierausschank, Lifeband und Mobilklo in Richtung München unterwegs und die zumeist männlichen "Flößer" fühlen sich erkennbar wohl. Es geht gemächlich voran und diese Art der Fortbewegung erinnert mich ganz fatal an die Flusskreuzfahrer auf dem Main-Donau Kanal. Allerdings stelle ich mir eine Floßfahrt unter diesen Bedingungen -reichlich Sonne & Bier- jedoch als recht angenehm vor und könnte mir durchaus vorstellen, so etwas selbst mitzumachen, ohne dass die Anwendung von Zwang erforderlich wäre.

Die Motivation für einen Streckenrekord ist heute gering und nach nur wenigen Kilometern am Kanal habe ich schon wieder Lust auf Pause. Der gar nicht eisige Eissee in der Pupplinger Au bei Wolfratshausen lädt zum Bade und ich lasse mich nicht lange bitten. Ziemlich viel Natur, wenige Menschen, sauberes Wasser, kein Lärm. Eine leichte Bewegungstherapie im Wasser, danach eine Ruhepause. Nach dem Aufwachen nehme ich mir vor, jetzt erst einmal ein bisschen zu fahren, die Vernunft (weiter nach SÜDEN) bekommt mal wieder stärkeres Gewicht als die Spontaneität (faul sein). Vorsichtshalber kontrolliere ich meine Schulter, ob nicht vielleicht auf der linken Seite ein Engelchen und auf der rechten Seite ein Teufelchen sitzen und mich durch den Tag dirigieren. Aber nein, nichts ist zu erkennen, beide halten sich in weiser Voraussicht vorerst bedeckt.

Die weitere Fahrt am Nachmittag ähnelt der Fahrt am Vormittag: Ständig verliere ich den erbärmlich ausgeschilderten Isarradweg, mal finde ich mich auf einem unvermittelt endenden Feldweg, mal auf einem immer schmaler werdenden Waldweg wieder. Ich bin so langsam davon überzeugt, dass dieser Fluss mit seinem Radweg und ich nicht zusammen passen und dass eine Trennung, zumindest auf Zeit, das einzig Richtige ist. Hinter Geretsried ist es dann soweit, der Radweg kann mich mal... Zur Orientierung nutze ich fortan nur noch die Straßenschilder in Richtung Bad Tölz, das ich dann auch ohne weitere Probleme zunächst auf ruhigen Radwegen, später auf einer mäßig befahrenen Straße erreiche.

Und siehe da, die Trennung hat uns gut getan! Bad Tölz liegt an der Isar und direkt am Flussufer begrüßt mich der Radweg freundlich, als wenn nichts gewesen wäre. Auch ich bin froh über das harmonische Wiedersehen. Wir beschließen, nun zusammen zu bleiben; ich verspreche, ihn nicht mehr zu beschimpfen, und er sichert mir zu, mich nicht mehr in die Irre zu führen. Ich denke, wir sind beide ein wenig reifer geworden und haben Erfahrung gewonnen. Der Name "Isar" stammt übrigens vom lateinischen "isaria" - die Reißende. Um es also klar zu sagen: DIE Isar (feminin) und nicht DER Fluss (maskulin). Nicht dass jemand bei der Analyse unserer Beziehung auf irreführende Gedanken kommt...

Ist es normal, mit Flüssen bzw. Radwegen zu kommunizieren? Oder sich von imaginären Figuren auf der Schulter beeinflussen zu lassen? Ich befürchte, nicht. Mache mir aber vorsichtshalber auch keine ernsthaften Gedanken oder gar Sorgen über meinen eigenen Geisteszustand. Die weitere Fahrt bis zum Campingplatz in Arzbach (subjektive ***, 7,50 Euro inkl. Dusche) ist sehr harmonisch und führt auf dem nun perfekt ausgeschilderten und angelegten Isarradweg (wir halten uns an unsere Abmachung!) immer direkt am Fluss entlang.