11. Tag (Freitag, 22.08.): Arzbach - Mittenwald, 50 km

Guido hatte mir als Ausflug einen Besuch des Großen Ahornbodens vorgeschlagen, ein Hochtal, in dem einzelne Ahornbäume bei strahlendem Sonnenschein vor beeindruckender Bergkulisse ein lohnendes Fotomotiv sein könnten. Aber daraus wird wohl nichts, denn im Laufe des Vormittags macht sich eine größere Anzahl von bedrohlich wirkenden Kumuluswolken über den Bergen breit und die Wetterprognose für den aktuellen Tag kündigt Regen, in den Bergen Gewitter, an. Um einem Regentag in dem ruhigen, aber langweiligen Arzbach zu entgehen, packe ich meine Ausrüstung ein und mache mich auf den Weg hinauf zum Sylvensteinsee, einem Stausee zur Regulierung der Isar. Zunächst scheint noch die Sonne und die Isar begrüßt mich mit einem freundlichen und nachhaltigen Rauschen. Weiter in den Bergen ist es jedoch bereits wolkenverhangen und grau und ich bedaure es nicht, auf den Ausflug zum Ahornboden verzichtet zu haben.

Während ich so am Fluss entlang radle, kommt mir plötzlich Bruno in den Sinn. Nein, nicht einer meiner Onkel väterlicherseits, sondern Bruno der Problembär. Ein Normalbär wird zum Problembär weil er ein Problem hat und damit zum Problem wird. Brunos Problem war seine Reiselust, die ihn dazu verführte, seine heimatliche Bärenhöhle in Norditalien zu verlassen und durch die Alpen in Richtung Norden zu wandern. Da Bewegung in frischer Bergluft bekanntlich bärenhungrig macht und Bruno kein bekennender Vegetarier war, mussten am Rande der Reiseroute so einige Hühnchen und Hähnchen, Zicklein und Lämmchen ihr jämmerliches Leben lassen. Damit trat er in direkte Nahrungskonkurrenz zu den eingeborenen Alpenstämmen und hatte damit dann sein Problem: "Bruno muss weg!", lautete die Forderung der geschädigten Kleintierbesitzer. Leider sollte es über Monate hinweg selbst einem skandinavischen Problembärspezialisten nicht gelingen, ihn mit einem gezielten Schuss zu betäuben und in das nächstgelegene Reservat für Problembären zu deportieren, und so sah sich die bayerische Administration eines Morgens dazu veranlasst, ihn zum Abschuss freizugeben. Keine 20 Minuten später war es dann um ihn geschehen, die örtliche Jägerschaft triumphierte und Bruno wurde zwecks weiterer Analysen auf Eis gelegt. Ein kleines Ratespiel: Wo hat wohl dieses Bärenschießen stattgefunden? Ja, richtig! Hier, in der Nähe des Sylvensteinsees.

Dies ist eigentlich nicht verwunderlich, ist doch die hiesige Jägerschaft für gezieltes Herumballern berühmt-berüchtigt. In den 50er Jahren wurden hier regelrechte Hetzjagden auf "Schwarzgeher" veranstaltet und dann auch mal einer von ihnen mit einem gezielten Warnschuss wegen akuter Fluchtgefahr abgeknallt. "Schwarzgeher" ist alpenländischer Jargon und bezeichnet bewaffnete Menschen, die ohne behördliche Genehmigung (mithin schwarz) in den Wald gehen und dort mit der gezielten Bestandspflege einen wesentlichen Teil des Hegeauftrags wahrnehmen, der sonst nur der Jägerschaft vorbehalten ist. Man könnte den Begriff "Schwarzgeher" also mit "Wilderer" übersetzen, was sich aber wesentlich unromantischer anhört. Und ein gehöriger Schuss Romantik ist schon dabei, wenn die Geschichten vom Jennerwein Georg (schon lange tot) und vom Laubhuber Felix, genannt "Fex" (lebt noch), erzählt und verfilmt werden. Allerdings gab es oftmals kein Happy-End, denn den Schwarzgehern erging es vielfach genau so wie den Gämsen und Hirschen, sie wurden einfach erlegt. Blattschuss, über Kimme und Korn. Waidmannsheil!

Auf meiner Fahrt hinauf zum Sylvensteinsee auf dem auch hier bestens ausgebauten Isarradweg läuft mir jedoch weder ein Problembär noch ein Schwarzgeher über den Weg und der Kreisjägermeister lässt sich vermutlich gerade von seiner Zenzi die dritte Halbe, eine Haxe und ein reichhaltiges Dekolleté servieren. Nach der Durchquerung eines kurzen, dunklen Tunnels erreiche ich dann das Seeufer in Höhe der Staumauer. Fortan verläuft der Radweg auf der Straße, was aber kein Problem ist, da nur selten ein Auto vorbeifährt. Zwischen Vorderriß und Wallgau geht es dann auf der -für Radler kostenlosen- schmalen Mautstraße weiter und ich freue mich über viele Ausblicke auf das naturbelassene Tal, durch das sich die "Reißende" schlängelt. Einige Kilometer hinter Wallgau erreiche ich dann den Campingplatz "Isarhorn" (11,30 Euro, Dusche 0,50 Euro für drei Minuten, *** in der subjektiven Wertung), der sich nahe der B 2 in einer Isarschleife befindet, und ich beschließe nicht weiter zu fahren, da sich die Wolken verdichten und Regen droht. Dies ist keine schlechte Entscheidung, denn kurz nach dem Aufbau des Zeltes beginnt leichter Regen, der bis in die Nacht anhält. Ein entferntes Gewitter beeindruckt in der Nacht mit grollendem Donnerhall und entsprechendem Echo vor der nahen Karwendelwand, tatsächlich eher ein beeindruckendes als ein ängstigendes Ereignis.

Der erste Alpeneindruck? Grau, Wolken, Regen, wo sind hier eigentlich die Berge? Also kein Unterschied zu den Alpeneindrücken der vergangenen Jahre. Und überhaupt: Wofür sind eigentlich die Alpen da? Eine Antwort auf diese Frage fällt mir so spontan nicht ein, vielleicht später.