12. Tag (Samstag, 23.08.): Fereinalm, 28 km

Wahnsinn! Ich öffne in der Frühe das Zelt und sitze im hellen Sonnenlicht. Mir gegenüber erhebt sich die steile Felswand des Karwendelgebirges mit der deutlich erkennbaren Bergstation der Mittenwalder Karwendelbahn und dem, einem Fernrohr nachempfundenen, Neubau des Naturinformationszentrums "Bergwelt Karwendel". Es ist zwar alles tropfnass vom nächtlichen Regen und besonders warm ist es auch nicht, dafür aber von Wolken keine Spur. Auf dem Weg zum Brötcheneinkauf entdecke ich eine Wanderkarte für die nähere Umgebung mit zahlreichen Tourenvorschlägen für Biker und Wanderer. Auf diese Weise inspiriert und leicht euphorisch durch den unerwarteten Anblick "richtiger" Berge beschließe ich, das Wochenende hier zu verbringen und zwei Touren im Karwendel zu fahren. Zunächst muss ich mich jedoch mit Lebensmitteln versorgen und so fahre ich in Richtung Mittenwald zum Einkaufen.

Am späten Vormittag bin ich dann soweit für die "klassische" Karwendelroute, ein Rundkurs, der mich über die Fereinalm, Hinterriß, den kleinen Ahornboden, das Karwendelhaus und Scharnitz führen soll. Leider ist die Sonne inzwischen hinter dicken grauen Wolken verschwunden und somit rüste ich mich zusätzlich zur Regenjacke vorsichtshalber noch mit einem warmen Pullover aus. Der Anstieg zur Fereinalm erfolgt auf einer geschotterten und für den öffentlichen Verkehr gesperrten Straße. Steigungsabschnitte mit deutlich mehr als 10% bringen das körpereigene Kleinkraftwerk schnell auf Hochtouren und verursachen deutliche Transpiration, obwohl mit zunehmender Höhe die Temperatur schnell abnimmt. Die Bergwelt um mich herum ist atemberaubend, zumindest vermute ich das, weil aufgrund tief herabreichender Wolken davon leider nichts zu sehen ist.

Auf der Terrasse der Fereinalm in knapp 1.400 Meter Höhe treffe ich auf einige Wanderer, die in der nahe gelegenen Krinner-Kofler-Hütte (nur Selbstversorgung) übernachtet haben und sich nun mit geistigen Getränken und einem Teller Erbsensuppe, dem angebotenen Einheitsessen, für die Tagesetappe stärken. Ich entscheide mich für einen Haferl Tee und bewege mich (selbstverständlich Selbstbedienung) deshalb in das Haus hinein. Welch Überraschung, denn mich erwartet eine urig-rustikale Atmosphäre. Was ich damit meine? Ich versuche es mal zu beschreiben: Über eine Veranda betrete ich einen dunklen Hausflur, an dessen Ende sich die "Theke" befindet. "Theke" beschreibt dabei die Funktion, nicht das äußere Erscheinungsbild, denn eigentlich handelt es sich um eine offene Tür, in der ein Tisch so platziert wurde, dass niemand durch diese Tür gehen kann. Hinter dem Tisch bzw. in dem Raum hinter der Tür befindet sich die durch einen Holzofen auf gefühlte 30 Grad temperierte Wohnküche der Almwirte, in der ein älterer sowie ein offensichtlich geistig behinderter jüngerer Mann sich gerade zum Mittag niedergelassen haben und ebenfalls Erbsensuppe essen. Es gibt tatsächlich für alle nur ein Essen, denn Erbsensuppe verbindet die Bergkameradinnen und -kameraden. Sozusagen praktizierter Sozialismus auf der Alm.

Die Almwirtin hat keine Mittagspause, denn sie verfügt offensichtlich nicht über ein vielköpfiges Team von Küchenprofis und Praktikanten und ist ohne weitere Hilfe somit für alles zuständig: Essen kochen und ausgeben, Ausschank, Geschirr spülen, den eigenen Haushalt führen und was weiß ich sonst noch. Jedenfalls hat sie keine Langeweile. Um zwei Euro erleichtert und mit einem heißen Tee ausgestattet gehe ich durch den Flur zurück und riskiere noch einen neugierigen Blick in die Gaststube. Der Raum ist nur ein paar Quadratmeter groß und ziemlich niedrig. Fußböden, Wände und Decken sind aus dunklem Holz, dem man ansieht, dass es nicht auf alt getrimmt wurde, sondern tatsächlich alt ist. Drinnen sitzen einige lautstark debattierende Alm-Wald-Bauern-Jäger-Schwarzgeher-Schmuggler auf einer Eckbank und einfachen Holzstühlen um einen mit Bierseideln beladenen Tisch herum. Almromantik? Höchstens für den Touristen, der zu Fuß oder mit dem Bike hier hereinschneit und eine Abwechselung zum Büroalltag sucht. Für die Almwirte sind die Monate, in denen die Alm ohne den im Tal selbstverständlichen Komfort bewirtschaftet wird, nichts weiter als ein Knochenjob und je nach Anzahl der Gäste möglicherweise auch purer Stress.

Nachdenklich lasse ich mich wieder auf der Terrasse nieder und genieße meinen Tee, als plötzlich in nicht allzu weiter Entfernung im Wald ein Schuss ertönt. Ich bin offensichtlich der Einzige, der diesen Schuss gehört und sich zudem auch noch erschrocken hat. Zwei weitere Schüsse provozieren zwar bei einigen Gästen Kommentare wie: "Hat er immer noch nicht getroffen? Hahaha!",  lassen die meisten Anwesenden allerdings völlig unbeeindruckt. Das Herumballern in freier Wildbahn am helllichten Mittag scheint im Revier von Ganghofers Jäger von Fall auch heute noch ein stinknormaler Vorgang zu sein. Ich blödstudierter, überzivilisierter Stadtmensch und Vegetarier bin jedenfalls gehörig irritiert.

Da sich die Berge weiterhin schamhaft mit Wolken verhüllen und definitiv nichts von der ganzen Alpenpracht zu sehen ist, setze ich die "klassische" Karwendelroute nicht fort und mache mich auf den Weg zurück nach Mittenwald in der Hoffnung, dass im Tal die Sonne scheint. Tut sie zwar nicht, aber es ist deutlich wärmer als auf der Fereinalm. Die Fußgängerzone von Mittenwald ist mit den lüftlbemalten Hausfassaden schön anzusehen aber ziemlich übervölkert. Auffallend ist für mich ein großer Anteil an italienisch sprechenden und mit schweren Winterjacken ausgestatteten Touristen, auf die sich die örtlichen Cafes mit Hinweisen auf dort erhältlichen orginal italienischen Kaffee -selbstverständlich auf Italienisch- schon eingestellt haben. Ich finde en passant den "Professor Schreyögg Platz", der nach einem bekannten in Berlin lehrenden BWL-Prof benannt wurde, und überlege wie ich auf einen Platz in meiner Heimatstadt reagieren würde. Irgendwie komisch. Ab 16:30 Uhr setzt leichter Regen ein, der sich bis in die Nacht fortsetzt. Ich bin froh, die "klassische" Karwendelroute nicht mehr gefahren zu sein und verbringe den Abend gemütlich im Schlafsack eingekuschelt und in Gesellschaft eines Fläschchens Rotweins.