13. Tag (Sonntag, 24.08.): Pfeishütte, 69 km

Meine zweite Karwendeltour ist ebenfalls ein Klassiker, für die -im Gegensatz zur eher leichten Tour am Vortag- die Messlatte jedoch ein wenig höher liegt. Dabei fängt alles sehr harmlos an, nämlich mit dem ebenen Fuß- und Radweg durch das in der Morgensonne liegende Ried, d.h. die Isaraue, über die österreichische Grenze nach Scharnitz. Vor der Kirche in Scharnitz geht es dann in die Karwendeltäler, wo einige leichte Anstiege, sozusagen zum Eingewöhnen, warten. Der Weg folgt zunächst dem Lauf der Isar, deren Quelle nun nicht mehr weit entfernt ist. Nach der Querung des Flusses geht es nach dem ersten stärkeren Anstieg auf einem bequem fahrbaren Forstweg im Tal des Gleierschbaches weiter. Ein Vater und sein jugendlicher Sohn geben Alles und schaffen es mit viel Geschnaufe und Geächze, mich auf einem recht steilen Abschnitt zu überholen. "Na ja...", denken ich mir und bin schon ein wenig irritiert, denn die Beiden sehen weder sportlich noch drahtig aus, sondern hinterlassen einen eher fertigen Eindruck.

Nicht weit nach diesem Anstieg erreiche ich Amtsäge, ein Berggasthof mit gut besuchter Terrasse, und treffe dort die Beiden von der Überholspur wieder. Offensichtlich haben sie ihr Tagesziel schon erreicht, denn sie lassen sich gerade an einem der letzten freien Tische nieder. Meine Irritation legt sich, denn auf der Kurzstrecke ist kein Kraftmanagement erforderlich und dann ist es auch kein Problem, sich am ersten Anstieg schon total zu verausgaben. Ich fahre weiter auf dem immer noch sehr komfortablen Forstweg und lasse die Möslalm, einen weiteren Berggasthof mit gut besuchter Terrasse, ohne weitere Beachtung rechts liegen. Denn mein Tagesziel ist die Pfeishütte am Ende des Tals, und nicht eine der vorgelagerten Ausflugsgaststätten.

Kurz hinter der Möslalm ist es mit der bequemen Sonntagsradlerei vorbei. Zunächst warten einige Hundert Meter Weg, die jüngst mit sehr grobem und losem Schotter präpariert worden sind. Fahrbar ist dieses Stück beim besten Willen nur abwärts, nicht jedoch aufwärts in Richtung Pfeis. Somit ist die erste Schiebepassage erreicht. Das nächste Problemstück wartet am Ende des Tals mit dem teilweise sehr steilen und durchgängig grob geschotterten Single-Trail bis auf die Höhe der Pfeishütte. Drei Freizeitbiker stehen am Beginn des Anstiegs und sind sich noch nicht ganz sicher, ob dieser Pfad wirklich der Weg zur Pfeishütte ist. "Aber ja doch!", kann ich nach einem Blick in die Karte versichern, auch wenn ich mich bereits außerhalb des Kartenbereichs befinde und der Weg wirklich eher an einen Wanderweg als einen Bike-Trail erinnert. Studis haben dafür einst den Begriff "extremer Doc-Style" geprägt, was soviel bedeutet wie: Sicheres Auftreten bei völliger Ahnungslosigkeit. Ich liege mit meiner Aussage jedoch richtig, es ist tatsächlich der Weg zur Pfeishütte.

Ich versuche dieses Stück fahrend zu bewältigen, scheitere aber an meiner Flachlandkondition, der durch die Höhe verursachten Atemnot, der nicht für losen Schotter ausgelegten Bereifung und meiner fehlenden Erfahrung in derartig schwierigen Gelände - am Deich kann ich solche Strecken leider nicht trainieren. Also wird das Material geschont und das Rad die meiste Zeit geschoben, genau so, wie es drei anderen Biker auch machen. "Per aspera ad astra", wusste schon Seneca. Ob er wohl auch mit dem Bike auf die Pfeis wollte?

Die Ausblicke sind dramatisch schön, hinter jeder Kurve und auf jeder Anhöhe lauert ein Fotomotiv und im Gegensatz zum Vortag ist bei fast wolkenlosem, tief dunkelblauem Himmel die Sicht auf die mich umgebenden Gipfel des Karwendels grandios. Grandios ist auch der Anblick der zwei überaus hübschen Mädels, die sich auf der Pfeishütte (1.922 m) um das leibliche Wohl der zahlreichen Gäste kümmern, ein Augenschmaus zur Belohnung für all die Mühen sozusagen. Da nur vom Augenschmaus der Durst nicht verschwindet, belohne ich mich zusätzlich mit einem halben Liter Radler auf der Sonnenterrasse. Allerdings ist es so sonnig und warm, dass ich freiwillig zum zweiten Mal auf der diesjährigen Tour die Sonne meide und mich in den Schatten setze, der von einem an der Hauswand angebrachten Solarpanel geworfen wird.

Urig-rustikal war gestern, also auf der Fereinalm, hier ist professionelles Gasthausmanagement angesagt, z.B. mit einer umfangreichen Speisekarte und einer Ecke zum Spielen und Toben für die Kleinen und nicht mehr so ganz Kleinen. Der Ausblick nach Norden ist super, in Richtung Süden, oh ja: SÜDEN!, verwehren einige Gipfel den Blick. "Alter, das geht so gar nicht", denke ich und schwinge mich behände auf das Bike in Richtung Süden, also bergauf. Meine Karte erfasst auch dieses Gebiet nicht und so wähle ich an jeder Weggabelung ganz spontan die Alternative mit der geringsten Steigung. Nachdem ich mich ca. 100 Höhenmeter fahrend und schiebend mit dem Bike abgequält habe, komme ich zu der Einsicht, dass Wanderwege zum Wandern, nicht zum Fahren geeignet sind. Das Bike bleibt also stehen und ich gehe zu Fuß weiter, durch eine Landschaft, die immer wilder und felsiger wird. Die Stille ist so überwältigend und ungewöhnlich, dass es fast schon unheimlich ist und mir fällt dazu der Titel eines 1976 von Manfred Mann veröffentlichten Albums ein: "Roaring Silence". Nur noch wenige Meter und einige herumliegende Felsbrocken trennen mich vom ungehinderten Blick in den Süden.

Ich bin sprachlos und setze mich vorsichtshalber erst einmal hin. Mit den letzten Schritten hat sich die Szenerie völlig gewandelt: Die "brüllende Stille" der Bergwelt ist einem diffusen Brummen gewichen, dass aus dem sich vor mir erstreckenden Tal stammt. Ich habe das Kreuzjöchel (2.121 m) erreicht und damit den südlichen Rand des Karwendelgebirges. Weit unter mir sind in der Flugzeugperspektive als Urheber der Ruhestörung klar und deutlich das Inntal und Innsbruck zu erkennen. Auf der gegenüberliegenden Talseite schlängelt sich die Brennerautobahn mit elegantem Schwung hinauf zum Brenner, der Horizont wird begrenzt durch die Gipfel des Alpenhauptkammes. Schon häufiger habe ich mir bei Besuchen in Innsbruck vorgenommen, auf die Berge hinaufzufahren, auf denen ich nun stehe und die sich wie ein Schutzwall am Nordrand der Stadt erheben. Einen Versuch vor Jahren habe ich auf der Hälfte der Strecke aufgegeben, da der von mir gewählte Anstieg brutal steil, zum Fahren zu steil, war. Und nun habe ich es, völlig ungeplant, tatsächlich einmal geschafft! Beinahe kindliche Freude und Euphorie machen sich breit und ich kann mich am Blick in das Tal und auf die zahlreichen Gipfel des Alpenpanoramas vom Großglockner und Großvenediger im Osten über die Zillertaler Alpen bis zu den Stubaier und Ötztaler Alpen im Westen nicht satt genug sehen. Schließlich muss ich mit diesen Eindrücken und Erinnerungen bis zur nächsten Tour auskommen.

Ein Blick auf die Uhr erinnert mich an den Rückweg, wobei ich auf der selben Strecke wie auf dem Hinweg, nur mit wesentlich größerer Geschwindigkeit und weniger Anstrengung fahre. Auf einem grob geschotterten Abschnitt kurz vor der Pfeishütte begegnen mir die drei Radler vom Anstieg wieder. Anstatt kurz anzuhalten versuche ich während der Fahrt ein paar Worte zu wechseln, was denn auch prompt misslingt: Bei geringer Geschwindigkeit verkantet sich das Vorderrad zwischen zwei größeren Brocken und ich falle vom Bike. Bis auf ein paar Abschürfungen am Knie ist nichts passiert, aber dämlich ist so etwas trotzdem. Und peinlich auch, denn einer der Drei hat den Sturz zufälligerweise und grinsend mit der Videokamera festgehalten.

Die Möslalm und Amtsäge liegen bereits im Schatten der Berge und die letzten Gäste machen sich, zumeist mit Hilfe ihrer Bikes, auf den Weg ins Tal. Die Abfahrt geht wesentlich schneller als kalkuliert und so bin ich bereits um 18:00 Uhr wieder am Zelt. Ein traumhafter Tag, besser kann es nicht mehr werden und deshalb geht es morgen weiter. Aber wohin? In den "SÜDEN", zu mehr will ich mich heute nicht mehr entscheiden.