15. Tag (Dienstag, 26.08.): Landeck - Susch, 87 km

Kein Frühtau, Sonnenschein, sommerliche Wärme, in der Nähe rauscht die Sanna: Der Tag beginnt so wie ich mir das vorgestellt habe. Ich folge dem Inntalradweg, der sich nun nur noch mit der Bundesstraße 180 und dem Fluss das Tal teilt. Die Streckenführung erfolgt teilweise auf Wald- und Wirtschaftswegen, teilweise jedoch auf einem markierten Bereich der Bundesstraße, was bei dem dort herrschenden Straßenverkehr nicht immer eine Freude ist. Im Übrigen hat der Inntalradweg ab Landeck seinen Charakter als Flusstalradweg, der ohne größere Steigungen dem Lauf des Flusses folgt, aufgegeben, denn die Strecke ist absolut nicht hügelfrei und ich komme gelegentlich ein wenig ins Pusten. An der Kajetansbrücke teilt sich die Bundesstraße. Ein Zweig führt hinauf zum Reschenpass und nimmt den größten Teil des Straßenverkehrs auf, der andere Zweig folgt dem Inntal und führt ins Engadin. Da das Tal an dieser Stelle sehr schmal ist müssen Straße und Radweg über eine Anhöhe geführt werden. Dabei sind einige Galerien zu durchfahren, was aber bei dem nur geringen Straßenverkehr nicht dramatisch ist.

An der Grenze zur Schweiz, immerhin eine EU-Außengrenze, werde ich wie immer durchgewunken, offensichtlich erwecke ich in meinem erbärmlichen Biker-Outfit nicht den Anschein eines typischen Schmugglers, Mädchen- oder Drogenhändlers. Für die Weiterfahrt in der Schweiz entscheide ich mich für die mäßig befahrene Hauptstraße 27 in der Hoffnung, dort weniger in den Genuss einer Berg- und Talfahrt zu gelangen als auf dem Radweg 65, dem Inn-Radweg. Im Laufe des Tages werde ich jedoch erfahren, dass diese Hoffnung unberechtigt ist.

Geld! Verdammt noch mal, ich habe nicht einen Franken in der Tasche. Siedend heiß fällt mir ein, dass ich zwar ausreichend mit Euros, aber absolut überhaupt nicht mit der heimischen Währung ausgestattet bin. "Kein Problem", denke ich mir, "dann hole ich eben ein paar Scheine aus dem nächsten Automaten, die vier Glückszahlen haben mich noch nie enttäuscht." Nun ist das Unterengadin nicht gerade ein globales Bankenzentrum und das Fehlen jeglicher Paläste aus Glas und Beton deutet klar darauf hin, dass die Suche nach einem Geldautomaten möglicherweise eine größere Aktion werden könnte. Es ist zudem bereits kurz nach zwölf, d.h. Mittag, und alle Menschen haben sich in ihre Wohnlöcher zurück gezogen, um dort bis mindestens 15 Uhr die Mittagsruhe zu begehen. Folglich sind alle Geschäfte geschlossen und kein Mensch ist auf der Straße anzutreffen, den ich nach dem nächsten Geldautomaten fragen könnte. Ich habe jedoch Glück und finde bereits im vierten Dorf einen mobilen Gemischtwarenstand, der keine Mittagspause macht und in dem sich ein Verkäufer in einem mir völlig unverständlichen Dialekt, wahrscheinlich dem rätoromanischen Vallader, mit einem Kunden unterhält. Ich will das sicherlich unendlich bedeutsame Gespräch nicht stören und sehe mich derweil im Sortiment um. "Eiderdaus", kommt es mir in den Sinn, "das ist original das Sortiment von Weert Saathoff!" Weert Saathoff war ein Kaufhaus mitten in Ostfriesland, das bis in die 80er Jahre (des letzten Jahrhunderts) eine sichere Einkaufsquelle für den Bedarf der ländlichen Bevölkerung war. So finde ich Arbeitskleidung für die moderne Landwirtschaft, warme Unterwäsche (kochfest!) für kalte Tage, bunte Kittelschürzen (pflegeleicht!) für die Dame des Hauses, Gummistiefel für den zugeschissenen Kuhstall, Töpfe und Pfannen für die perfekte Küche, Geschirr, Gläser und Besteck für ein stilvolles Dinner mit Freunden, Spaten und andere kleine Gartengeräte für den spießigen Vorgarten, bunte Decken und filzige Hausschuhe für einen gemütlichen Abend vor dem heimischen TV-Empfänger. Und dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus der schier unglaublichen Auswahl, die sich in einem heftigen Durcheinander präsentiert.

Der Verkäufer sieht übrigens so aus, als ob er viel herum kommt, deshalb möglicherweise auch eine mir bekannte Sprache spricht und mir einen Tipp geben könnte. Richtig: Er versteht meine Frage nach einem Geldautomaten, die ich vorsichtshalber klar und langsam auf Hochdeutsch vortrage. Allerdings ist er nicht über die Standorte von Geldautomaten im Bilde, kann mir jedoch weiterhelfen, indem er meine Frage übersetzt und an den immer noch anwesenden Kunden weiterleitet. Nach kurzem Überlegen und mit simultaner Rückübersetzung erhalte ich tatsächlich eine präzise Wegbeschreibung, mit deren Hilfe ich die örtliche Franken-Geldquelle erreiche. Ein kleines Stück bergauf, dann hinter dem Brunnen links, zwischen zwei alten Bauernhäusern hindurch, hinter dem Misthaufen rechts, nicht den Fußweg zur Kirche nehmen und schon habe ich die Minizweigstelle einer Minikreditgenossenschaft mit ihrem EC-Geldautomaten erreicht. Probleme mit Banküberfällen wird es bei dieser zentralen und verkehrsgünstigen Lage sicherlich nicht geben...

Nach diesem kleinen, aber unterhaltsamen Intermezzo geht es wieder auf die Piste. Die Sonne scheint mir seit Überschreiten der Schweizer Grenze fast ohne Unterlass auf den Buckel und es ist inzwischen auch ganz ordentlich warm. Das Unterengadin macht also seinem, auch wetterstatistisch nachweisbarem, Ruf als typisches Sonnenloch wieder einmal alle Ehre. Häufige Pausen an öffentlichen Brunnen, in jedem Ort zahlreich vorhanden, sind die notwendige Folge und ich trinke über den Tag verteilt ca. 7 Liter klares kaltes Bergwasser. Für einen überzeugten Tee-, Espresso- und Biertrinker ist das schon eine ordentliche Leistung, finde ich. Es geht also nur gemächlich voran und zudem tendenziell bergauf: Landeck: 800 m über NN, Susch 1.420 m über NN. Wobei diese Höhendifferenz noch dadurch verstärkt wird, dass die Strecke mal auf Flussniveau, mal weit über dem Tal verläuft. Zudem nimmt der Straßenverkehr zu je weiter ich ins Engadin vordringe und im Nachhinein ist mir klar, dass ich spätestens ab Scuol auf dem Radweg hätte weiterfahren müssen. Waren da vielleicht wieder Engelchen und Teufelchen am Werk? Unbemerkt, als devil & angel in disguise? Möglicherweise bin ich auch zu stark auf den Lago di Como als neues Tourziel fixiert und habe deshalb vergessen, dass bei solchen Touren der Weg das Ziel ist und deshalb auch Spaß machen sollte. Vielleicht hat auch nur die Dauerbesonnung mein Hirn trotz Helm ein wenig aufgeweicht.

Um ca. 14:00 Uhr erreiche ich den kleinen Ort Sur En am Eingang zum Val d'Uina. Ein klangvoller Name mit einem klaren Echo in meiner Erinnerung an einen Transalp im Juni 2000. Damals war auf Grund der Streckenvorschläge von Andi Heckmair das Val d'Uina eigentlich fest eingeplant, wurde aber nach zwei Tagen, in denen ich das Bike wegen unglaublicher Schneereste des vergangenen Lawinenwinters hauptsächlich getragen (!) hatte, von mir ersatzlos gestrichen. Heute würde sich die Gelegenheit bieten, das Val d'Uina ohne Gepäck zu befahren, indem ich mich zunächst auf dem Campingplatz in Sur En einquartiere und dann die Tour durch die Uinaschlucht bis zum Schlinigpass am Talende fahre / schiebe / trage. Im Hinblick auf die Uhrzeit erscheint mir das jedoch bei näherem Nachdenken unrealistisch, denn die Uinaschlucht, das eigentliche Highlight der Tour ist sehr steil und kann den Streckenbeschreibungen zu Folge nur tragend / schiebend oder ohne Bike bewältigt werden. Und das würde ich inklusive Rückfahrt zum Campingplatz nicht bis zur Dunkelheit um 21:00 Uhr schaffen. Alternativ dazu wäre, diese Tour morgen zu fahren und für heute Schluss zu machen. Dazu habe ich dann auch keine Lust, ein paar Kilometer möchte ich heute schon noch auf der Uhr sehen. Also geht es nach einer Denkminute einfach weiter hinauf ins Engadin.

Drei Stunden später bin ich dann nicht nur ziemlich genervt vom Autoverkehr, sondern auch reif für eine Pause und fahre den Campingplatz in Susch an. Obwohl Campingplatz eigentlich nicht der richtige Begriff für diese Wiese ist: Zwei Toiletten und eine Waschrinne befinden sich in einer windschiefen und baufälligen Baracke, die Duschen sind nur wenige hundert Meter entfernt im fensterlosen und lawinensicheren Betonkellergewölbe der Feuerwache. Und bevor wieder das ewige Lamentieren auf meiner Schulter mit "Fahr weiter!" und "Bleib hier!" beginnt, entscheide ich mich, nicht bis zum nächsten Platz in Zernetz weiterzufahren und schlage hier das Zelt auf (9,20 Euro inkl. Feuerwachekellergewölbedusche, subjektive Wertung: maximal *).
Am nahe gelegenen Hang beginnt die Auffahrt zum Flüelapass. Nicht eine Sekunde denke ich daran, diesen Pass zu fahren, denn er führt nach Norden und meine mentale Verfassung lässt Gedanken an den Norden und damit auch an die Rückfahrt noch nicht zu. Erst einmal steht der SÜDEN auf dem Programm...