16. Tag (Mittwoch, 27.08.): Susch - Domaso, 130 km

Beim Frühstück, das auf Grund der Uhrzeit heute tatsächlich den Namen "Früh"-Stück verdient, lasse ich den vergangenen Tag noch einmal Revue passieren: Es war mäßig anstrengend bei traumhaftem Sommerwetter, also eigentlich ein gelungener Tag, wenn da nicht der zuletzt absolut ätzende Straßenverkehr gewesen wäre. Ich nehme mir also vor, heute so wenig Straße wie möglich zu fahren und jeden vorhandenen Radweg zu nutzen, auch wenn es dadurch vielleicht etwas langsamer voran gehen sollte. In Zernez stoße ich dann auf den Inn-Radweg und verabschiede mich wie vorgesehen für einige Stunden von der Hauptstraße 27 mit ihren viel zu schnell fahrenden PKWs, qualmenden LKWs und aggressiven Motorradfahrern.

Der Inn-Radweg ist zwischen Zernez und S-Chanf nichts für Flachlandradler. Es gibt zwar keine langen, dafür aber viele kurze und teilweise alpine Steigungs- und Gefällstrecken auf geschotterten Wegen. Wer den Weg trotzdem fährt wird belohnt mit einer allmählich alpinen Charakter annehmenden Landschaft, ruhigen Wäldern und sehr schönen Ausblicken auf die umliegende Bergwelt und das Engadin. Es ist ein ständiges Hinauf und Herunter, mal führt der Weg weit oberhalb des Inns, kurze Zeit und eine Gefällstrecke später befinde ich mich wieder auf Talniveau, dann geht es wieder hinauf, up and down. In S-Chanf ist das Hochtal des Oberengadins erreicht und der Radweg verläuft zumeist in völlig flachem Gelände. Schuld daran, dass das Fahren trotzdem nicht leichter wird, ist der thermische Maloja-Wind, der fast jeden Nachmittag und bei fast jeder Wetterlage vom Malojapass konstant mit bis zu Windstärke 6 in das Engadin hinein pustet. Für die Mittagspause in der Nähe von Zuoz finde ich noch ein windgeschütztes Plätzchen direkt am Inn, wo ich in Ruhe einen durchschnittlichen und überteuerten Camembert und ein ausgezeichnetes Pain Paillasse verdrücke.

Auf der Weiterfahrt wird es jedoch ab Samedan ziemlich ungemütlich und 15 Grad sind trotz ununterbrochener Sonnenbestrahlung auch nicht wohlig warm. Ich fühle mich wie auf einer Nordseeinsel und die Tatsache, dass der Inn zwischen Schlarigna und St. Moritz zum Teil eingedeicht ist, verstärkt dieses Gefühl noch. Auf der Promenade am St. Moritzsee ist ungemütliches Flanieren bei steifer Brise, aber mit Blick auf den Nobelort mit seinen Nobelherbergen angesagt. Sehr oft ist Italienisch zu hören und dass es sich bei den Flaneurinnen und Flaneuren tatsächlich auch um Italienerinnen und Italiener handeln könnte, verrät deren modische Ausstattung mit dicken Steppjacken und Schals. Nun ja, für italienische Verhältnisse ist das Sommerwetter in St. Moritz, gelegentlich auch Champagner-Klima genannt, alles andere als sommerlich und auch ich finde es alles andere als prickelnd. Viel zu nordisch, wie bereits erwähnt.

Was mich als Radler nervt, ist den Wind-Surfern, Kite-Surfern und Seglern auf den großen Seen des Oberengadins eine ganz besondere Freude. So ist insbesondere der Silvaplana See am Nachmittag ein Paradies für alle Fans dieser Sportarten. Ich fahre einmal durch den völlig überbelegten Campingplatz in Silvaplana, direkt am See gelegen, und freue mich während einer Rast an der seltenen Kombination von Surfsegeln, Drachen und Hochgebirge.

Das letzte Stück im Engadin von Silvaplana bis Maloja, nun wieder auf der Straße, raubt mir den letzten Rest an Motivation. Engelchen und Teufelchen haben wieder einmal Platz auf meiner Schulter genommen und streiten sich.

Teufelchen rechts: " Du hast schon so viel geleistet in den letzten Tagen und bist auch nicht mehr der Jüngste. Schone Dich und mach Schluss für heute. Morgen ist auch noch ein Tag."

Engelchen links: "Alter, reiß Dich zusammen! Am frühen Nachmittag schon aufgeben, nur wegen ein bisschen Wind. Wie peinlich ist das denn? Oder willst Du nicht mehr in den SÜDEN?"

Als Weichei tendiere ich eher zur Argumentation des Teufelchens, denn ich bin ja schon ziemlich weit im "SÜDEN". Aber letztendlich möchte ich mir auch Nachfragen ersparen wie: "Was, schon am frühen Nachmittag aufgegeben, nur wegen einer Motivationskrise?" Und so lasse ich den Campingplatz in Maloja sprichwörtlich und tatsächlich in Fahrtrichtung links liegen. Engelchen freut sich mal wieder, Teufelchen zieht sich nachhaltig schmollend zurück. Ich werde tatsächlich lange nichts mehr von ihm hören.

Der Ortsausgang von Maloja ist gleichzeitig Passhöhe des Malojapasses, wobei mir selten so ein merkwürdiger "Pass" untergekommen ist: Wer aus Italien kommt, bewältigt die Höhendifferenz zwischen Chiavenna (325 m ü. NN) und Maloja (1.815 m ü. NN) innerhalb von 33 Kilometern, wovon die letzten Kilometer steil und mit reichlich Spitzkehren den Berg hinaufführen. So, wie sich das für einen ordentlichen Pass auch gehört. Wer den Inn entlanggefahren ist, also aus der Schweiz bzw. Österreich kommt, hat die Höhendifferenz zwar auch überwunden, dafür jedoch ca. 500 Kilometer, nämlich die Länge des Inn-Radweges, gebraucht und ist ganz ohne Spitzkehren und lange Steigungsstrecken ausgekommen. Das ist nicht unbedingt typisch für einen "Pass", eher für einen seniorengerechten Radwanderweg.

Der Kiosk auf der "Pass"höhe wird von Radlern belagert, die aus Italien kommend nun schweißnass alle möglichen Getränke in sich hineinschütten. Ich stelle mein Bike ab und gehe die paar Meter auf den Aussichtsfelsen hinauf. "Holla die Waldfee!", rufe ich und halte mich vorsichtshalber am Geländer des Aussichtsfelsens fest. Denn der Malojawind ist hier definitiv ein Malojasturm und verwackelungsfreies Fotografieren deshalb nicht ganz einfach. Die meisten Italiener halten ihre Nase nur kurz in den Wind, denn es ist so gemütlich wie ganz oben auf der ersten Düne in de Koog mitten im Januar. Ich ziehe einen Pullover und die Regenjacke an, schnalle den Helm fester, schwinge mich aufs Rad und brate mit hoher Geschwindigkeit (max. 64,5 km/h) und zunächst heftigstem Gegenwind genussvoll die 33 Kilometer abwärts durch das Bergell bis nach Chiavenna.

Ich bin nun zwar wieder auf einer Hauptverkehrsader gelandet, spüre davon aber nicht sonderlich viel, da ich bei hoher Geschwindigkeit im Verkehrsstrom mitschwimme. Gelegentlich werden Radfahrer auf Radwege abseits der Hauptstraße 3 verwiesen, was die Durchschnittsgeschwindigkeit zwar verringert, sich aber immer als besonders lohnenswert erweist. Denn während die Straße oftmals um die kleinen und beschaulichen Dörfer des Bergells herum geleitet wird, führt der Radweg durch die durchweg sehenswerten Zentren der Orte. Der Unterschied zum Engadin zeigt sich am Baustil der Häuser, der sich rapide ändernden Vegetation und der Lufttemperatur: Bereits an der italienischen Grenze entledige ich mich des Pullovers und der Regenjacke und als ich Chiavenna um 18:00 Uhr erreiche ist es dort noch 29 Grad warm, selbstverständlich ohne Wind. Und das Beste daran: Dieser schnelle Wechsel von Nordsee- zum Mittelmeerklima hat meine Motivation auf ungeahnte Höhen geschraubt und ich strotze nur so vor Energie.

So erledige ich die letzten 25 Kilometer bis an den Lago di Como schnell und ohne weitere Pausen. Ich benutze die für Selbstmörder empfehlenswerte SS 36, auf der schon sehr italienisch gefahren wird und Radfahrer keine weitere Beachtung finden. In Verceia begrüßt mich der Lago di Mezzola in der Abendsonne und ein Hinweis auf den Radweg "Italia 6". Ich bin schwer erstaunt, habe ich doch nie im Leben daran gedacht, dass es in Italien so etwas wie ausgeschilderte Radwege geben könnte. Nun gut, ich befinde mich in Norditalien, also quasi Italien für Anfänger, aber trotzdem ist den Verantwortlichen der Region Chiavenna die Überraschung geglückt. Und tatsächlich führt mich der Weg in Umgehung zweier Straßentunnel mehr oder weniger direkt am Seeufer und mit absolut zuverlässiger Beschilderung durch Verceia. Jetzt noch ein kleines Stück bis zum Abzweig der Via Regina, die bei Ponte del Passo den Lago di Como erreicht und dann am Westufer verläuft. Mein aus den Vorjahren bereits bekanntes Ziel, der Campingplatz "Le Vele" in Domaso, ist noch einige Kilometer am Seeufer entfernt. Sofern möglich nutze ich die Seepromenade, da die teilweise sehr schmale Uferstraße von zumeist jüngeren Fahrern gerne dazu genutzt wird, mit möglichst hoher Geschwindigkeit dem Tod ein Schnippchen zu schlagen oder irgendwelchen Bräuten zu imponieren.

"Le Vele", der erste (selbstverständlich subjektiv) ohne Bedenken mit **** zu bewertende Platz der diesjährigen Tour, ist fast ausgebucht und für mich bleibt nur noch ein geräumiger Stellplatz, der eigentlich für große Zelte, Wohnwagen oder Wohnmobile vorgesehen und damit auch entsprechend teuer ist. Ich will keinen der benachbarten Campingplätze ansteuern und so nehme ich den "Restplatz" (20 Euro inkl. Dusche, Stromanschluss und -verbrauch) und buche mich erst einmal für drei Übernachtungen ein.

Der Aufbau des Zeltes gestaltet sich nicht ganz so einfach, denn zum Abend startet die Breva, ein kräftiger thermischer Wind, der an warmen Sommertagen in Domaso von kurz vor bis kurz nach dem Sonnenuntergang weht und nun die Zeltplane ordentlich zum Flattern bringt. Vorsichtshalber verankere ich das Zelt sturmsicher. Als alles aufgebaut und gesichert ist, hat sich der Wind aber schon wieder vollständig gelegt. Auch gut.

Nach dem Abendessen sitze ich in der beginnenden Nacht bei 28 Grad am Seeufer und kann es noch nicht wirklich fassen, dass ich nun am Lago, im SÜDEN, sitze und damit nach 1.556 Kilometern und ca. 8.530 Höhenmetern das Tourziel erreicht habe. Morgen werde ich erst einmal italienisches Obst und Tomaten, Brot, Wein und Käse einkaufen und dann einen Tag mit original italienischem Espresso am/im Pool/See verbringen. La dolce far niente - Nichtstun und genießen auf Italienisch, das ist angesagt.