17. Tag (Donnerstag, 28.08.): Domaso

Das Programm für den heutigen Tag habe ich ja bereits am Vorabend formuliert und daran halte ich mich auch. Um bloß nichts vom Tag zu verpassen stehe ich vorsichtshalber vor dem 7-Uhr-Geläute der drei Kirchen von Domaso auf und begebe mich an das Seeufer, um die Sonne zu begrüßen, die sich um 07:19 Uhr hinter dem Berg hervortraut. Ich fühle mich gut, die Luft ist mild, die Sonne wärmt, der See ist ruhig und gelegentlich passiert ein Jogger meinen Uferplatz. Rechtzeitig zur Ladenöffnung stürme ich dann den Iperal, einen nahe gelegenen Lebensmittelhändler mit vernünftiger Auswahl und decke mich mit allem Notwendigen für einen kulinarisch ausgewogenen Tag ein.

Nach dem Frühstück im Zelt inspiziere ich erst einmal den Campingpool und drehe testweise ein paar Runden. Erst nach dem Bad entdecke ich, dass das Tragen einer Badekappe obligatorisch ist. Ja, in welchem Jahrtausend leben wir denn? Ist die haarresistente Filteranlage denn noch nicht erfunden worden? Leicht irritiert beschließe ich, keine Badekappe zu kaufen und einen förmlichen Anschiss zu riskieren. Um es gleich vorweg zu nehmen: Einen Anschiss hat es auch an den Folgetagen nicht gegeben. Schwimmen erschöpft doch ungemein und so trinke ich den ersten Espresso des Tages auf der Poolterrasse, um wieder zu Kräften zu kommen.

Den Rest des Tages verbringe ich bei 35 Grad und Dauerbesonnung am Seeufer und beschäftige mich mit typischen Strandaktivitäten: Lesen, Dösen, Schwimmen, Schlafen und trägem Umherschauen. Auf-/anregende An-/Einblicke in die weibliche Anatomie? Fehlanzeige, denn Domaso ist Ende August überwiegend von Familien mit Kindern bevölkert, viele davon aus deutschen Landen, auf Grund der räumlichen Nähe und unüberhörbar vor allem aus Bayern und Baden Württemberg. Es schwäbelt an vielen Stellen, aber gelegentlich höre ich auch mal ein Wort Italienisch. Und wer ist so anwesend an meinem Familienstrand? Hier eine kurze Beschreibung der Hauptakteure mit ihren jeweils typischen Aufgaben und Verhaltensweisen:

Mutter: Für die Organisation des Aufenthaltes am See zuständig, sitzt auf erhöhter Position für guten Überblick, hat vom Keks bis zum Pflaster alles dabei, braucht für die ordnungsgemäße Ausbreitung aller notwendigen Utensilien und das Trocknen benutzter Handtücher einen halben Fußballplatz, achtet auf ordnungsgemäßen Sonnenschutz der restlichen Familienmitglieder, bevorzugt die lautstarke verbale Kommunikation für die Dressur des Nachwuchses und Anweisungen an den Gatten, hat immer noch nicht herausgefunden, wie der im nahe gelegenen Fachgeschäft für überflüssigen Strandbedarf überaus günstig erworbene Pareo richtig sexy um die vollen Hüften geschwungen wird, hat keine Ruhe für die Urlaubslektüre (Danielle Steele, Barbara Wood u.ä.), d.h. sie befindet sich nicht wirklich im Urlaub, da sie den gleichen Stress wie zu Hause hat.

Vater: Kümmert sich um das Aufblasen überdimensionaler Gummitiere und den richtigen Umgang mit Schlauchbooten, weiht den Nachwuchs in die Kunst des Schnorchelns ein und demonstriert stolz den Fang von millimetergroßen Speisefischen mit Hilfe eines im nahen Fachgeschäft für überflüssigen Strandbedarf überaus günstig erworbenen Käschers, hat die Bild-Zeitung von heute, die Süddeutsche von gestern und den Focus der letzten Woche dabei und erfreut sich ersatzweise an der üppigen und unbedeckten Oberweite auf Seite 3, da am Strand ordnungsgemäße Bekleidung angesagt ist.

Söhne / Töchter, klein: Betrachten die Eltern als Ersatz für die Animateure im Junior-Club des letzten All-inclusive-Urlaubs auf Malle und fordern vollen zeitlichen und körperlichen Einsatz mit aktiver Bespielung und immer neuen Ideen, verlieren ständig die im nahen Fachgeschäft für überflüssigen Strandbedarf überaus günstig erworbenen neonfarbenen Badeschuhe, sind auf Grund umfangreichen Schlafdefizits leicht reizbar und tendenziell ungehalten, wenden im Kontakt mit Gleichaltrigen gelegentlich archaische Formen der nonverbalen Kommunikation an, wie z.B. Treten, Schlagen, Kneifen, bevorzugen aber sonst die verbale Kommunikation, bei nicht genehmen Dressuranweisungen der Erziehungsberechtigten auch in erheblicher Lautstärke.

Söhne / Töchter, nicht mehr ganz so klein: Betrachten Urlaub mit Familie als Pflichtübung und wären viel lieber mit ihren Freunden zusammen, demonstrieren äußerste Langeweile, scheuen das Wasser um die Frisur nicht zu gefährden, hören zum x-ten Mal den Ei-Pott mit den aktuellen Charts und ihrem bevorzugten Underground Gangsta Hip-Hop ab, kommunizieren weder verbal noch nonverbal mit niemandem, finden alles ziemlich peinlich, insbesondere das neue T-Shirt mit Lago di Como Print, das im nahen Fachgeschäft für überflüssigen Strandbedarf von den Eltern überaus günstig erworben wurde.

Junges Paar, hetero: Nur selten am Strand zu sehen, Bundessieger "Jugend forscht" 2008, verfeinern die im Notfall lebensrettende Technik der Mund-zu-Mund Beatmung, benötigen mit ca. 2 Quadratmetern von allen Badegästen nur den geringsten Platz, da beide auf einem im nahen Fachgeschäft für überflüssigen Strandbedarf überaus günstig erworbenen Badetuch bequem übereinander liegen, kommunizieren hauptsächlich nonverbal über haptische Reize, stören nicht, schmutzen nicht und fallen auch sonst nicht weiter auf.

Älteres Paar: Achten beim Strandequipment auf Komfort und räkeln sich selbstverständlich nur auf körpergerecht geformten und straff gepolsterten orthopädischen Liegen, die aufgrund des hohen Gewichts mit erheblicher körperlicher Anstrengung an den bevorzugten Liegeplatz geschleppt werden, kommunizieren weder verbal noch nonverbal, nehmen an der Therapie "Lesen hält jung" teil, tragen die im nahen Fachgeschäft für überflüssigen Strandbedarf überaus günstig erworbene Kopfbedeckung mit Lago di Como - Emblem mit Stolz und Anmut und weisen alle übrigen Strandgäste diskret auf ihr außerhalb der 20-Meter-Zone verankertes Motorboot hin, indem Er mehrfach hinausschwimmt und die Schutzplane zurecht zupft.

Die Halbstarken: Seltene, nur im Rudel auftretende Männchen, die sich wie viele Säugetiere im Spätsommer in der Paarungszeit befinden und deren Verhalten durch die Brunftrituale bestimmt wird, wozu auch lautstarke verbale Kommunikation über die idealen Eigenschaften von Paarungspartnern, motorisierten Fahrzeugen und alkoholischen Kaltgetränken gehört, sind wegen des völligen Ausbleibens von paarungswilligen Weibchen leicht aggro, konsumieren deshalb ersatzweise das im nahen Fachgeschäft für überflüssigen Strandbedarf überaus günstig erworbene Dosenbier mit Ernst und Anstand und gehen anschließend zum Pinkeln ins Wasser.

Übertrieben? Absolut nicht! Nicht glaubwürdig? Selbst hinfahren und selbst überzeugen! Es lohnt sich, aber bitte kein Seewasser trinken...

Zurück auf dem Campingplatz stelle ich fest, dass sich die Gästestruktur im Laufe des Tages signifikant geändert hat. In der direkten Nachbarschaft links hat es sich ein Vater mit drei Kindern, einem Zwei-Personen-Zelt und einem Kleinwagen gemütlich gemacht  Das körperlich etwas voluminösere Paar aus Stuttgart in der Nachbarschaft rechts hat Besuch von einem weiteren, ebenfalls körperlich etwas voluminöseren Paar mit eigenem Zelt bekommen und feiert fröhlich das Wiedersehen. Gegenüber auf der anderen Seite des Weges haben sich zwei Paare mit zwei Zelten und Papas Limousine niedergelassen und sind noch voll konzentriert mit dem Aufbau der Zelte beschäftigt. Sonst hat sich in meiner Nachbarschaft aber nichts verändert, insbesondere die holländische Großfamilie, bestehend aus Oma, Opa, Mutter, Vater und drei Kindern, ist mit ihrem mehrstöckigen 100-Quadratmeter Zelt noch anwesend und beschäftigt sich gerade mit einem mehrgängigen Candlelight-Family-Dinner. Die Stimmung um mich herum ist äußerst entspannt und ich schenke mir erst einmal einen Becher vom vergorenen Saft lokaler roter Weinreben ein.

Später in der Nacht, der Campingplatz ist völlig ruhig und friedlich, entwickelt sich im Zelt gegenüber auf der anderen Seite des Weges ein Konflikt zwischen Ricarda und Erik, an dem alle Campinggäste in der Nachbarschaft unfreiwillig teilnehmen dürfen. Es geht um die wesentlichen Dinge des Lebens und beide zoffen sich ganz ordentlich. Eriks bemüht ruhige Art provoziert Ricarda noch zusätzlich, was zu zunehmender Lautstärke führt. Hinübergehen, beide höflich um Ruhe bitten bzw. unhöflich anmotzen? Führt wahrscheinlich nur dazu, dass sie sich gegen mich solidarisieren und ich dann der Dumme bin. Also nicht. Irgendwann geben die Beiden dann von sich aus Ruhe und der Campingplatz atmet auf. Nervig das Ganze, aber es ist ein nicht zu vernachlässigender Nachteil des Lebens im Zelt, dass eine akustische Privatsphäre nicht existiert. Big brother is hearing you!