18. Tag (29.08., Freitag): Valle di Livo Südseite, 45 km

Noch während des Frühstücks beginnen Ricarda, Erik und das mitreisende Paar ihre Zelte abzubauen und die Ausrüstung im Auto zu verstauen. Ricarda zickt immer noch gewaltig herum und Erik ist bemüht, die ganze Affäre mit einem: "Was die immer hat...", als ziemlich belanglos darzustellen. Eigentlich eine gute Idee von den Beiden, heute abzureisen, dann bleibt allen übrigen Campinggästen das Generve erspart. "Urlaub alleine hat echte Vorteile", denke ich mir und beginne darüber nachzudenken, wie ich diesen Tag nun völlig selbstbestimmt begehen werde. Mit Blick auf die umliegenden Hügel beschließe ich, dort irgendwo hinaufzufahren und beim oberflächlichen Studium der für die Planung von Biketouren völlig ungeeigneten Straßenkarte im Maßstab 1 : 200.000 definiere ich das Valle di Livo als Tagesziel. Es ist auch bereits 11:00 Uhr und damit höchste Zeit für den Start, da die Temperatur bereits auf über 30 Grad geklettert ist und sicherlich noch weiter steigen wird. Zunächst auf der Strandpromenade und später auf der Straße geht es erst einmal nach Gravedona und dann dem Wegweiser ins Valle di Livo folgend mit zahlreichen Serpentinen und vielen wunderbaren Ausblicken auf kleinen Straßen hinauf über Peglio nach Livo.

Livo ist ein beeindruckendes Bergdorf auf ca. 650 m ü. NN, das hauptsächlich aus historischen Bauten besteht und nur zur Hälfte bewohnt scheint. Tourismus? Fehlanzeige, bis auf ein kleines Restaurant an der Piazza. Einkaufsmöglichkeiten? Nicht gefunden. Die Gassen im Ort sind sehr schmal, für Autoverkehr meistens zu schmal, die Häuser stehen dicht gedrängt beieinander und Menschen sind nicht zu sehen und zu hören. Irgendwie kommt mir das alles sehr bekannt vor, als ob ich schon einmal hier gewesen wäre. Fotos, Filme? Nicht dass ich mich erinnern könnte. Erzählungen? Mir fällt niemand ein, der von diesen Dorf erzählt haben könnte. Ein Buch? Aber ja, hier ist es, das Dorf des ultrabösen Capricorn aus Cornelia Funkes "Tintenherz".

"Meggie erkannte Häuser, alte Häuser aus grauem, grob behauenen Stein, über deren Dächer sich bleich ein Kirchturm erhob. Viele der Häuser sahen unbewohnt aus, als sie an ihnen vorbeigingen, durch Gassen, die so eng waren, dass Maggie das Atmen schwer fiel. Einigen Häusern fehlte das Dach, andere waren kaum mehr als ein paar halb eingestürzte Mauern." (Cornelia Funke, "Tintenherz", S. 135)

Ein deja-vu, denn in meiner Vorstellungskraft sieht Capricorns Dorf, das ligurische Dorf ohne Namen, genau so aus wie Livo. Hat Cornelia Funke dieses Dorf als Vorbild genommen? Ich bin Realist und vermute, dass außerhalb der Touristenzentren viele Bergdörfer in den italienischen Alpen, in Ligurien, im Piemont oder in der Lombardei so aussehen. Aber trotzdem fahre ich vorsichtshalber langsam und leise durch die dunklen und engen Gassen, um  nicht den Zorn von Capricorn und seiner Räuberbande  auf mich zu ziehen.

Weiter geht es auf der Straße von Livo nach Dangri durch ausgedehnte Wälder mit Esskastanien, einst ein wichtiges landwirtschaftliches Produkt der Region, heute jedoch wenig bedeutend, so dass die Bäume oftmals sich selbst überlassen werden. Überwucherte Wege und Ruinen von kleinen Häusern geben den Wäldern ein eigenartiges Flair und hinter jeder Kurve könnte eine Hexe oder ein Zauberer warten. Selbst Engelchen und Teufelchen sind durch diese leicht gespenstische Atmosphäre ein wenig verstört und verhalten sich absolut ruhig, obwohl es an der ein oder anderen Weggabelung durchaus Diskussionsbedarf gegeben hätte.

Dangri ist eine Ansammlung von kleinen, freistehenden Bauernhäusern, die größtenteils renoviert sind und als Freizeitimmobilie genutzt werden. Dangri markiert auch das Ende der mit dem Auto befahrbaren Straße am Südhang des Valle di Livo. Jenseits von Dangri gibt es nur noch einen Trail, der über Baggio und die Rifugio Pianezza das Val Darengo aufwärts führt, mich heute aber nicht zum Weiterfahren reizt. Statt dessen rolle ich auf gleicher Strecke zurück bis Livo, besuche noch die -leider wie ein Hochsicherheitstrakt verschlossene- Kirche San Giacomo einige Hundert Meter außerhalb des Ortes und fahre dann in Richtung Peglio bis zur kleinen Kirche Gorghiglio. Dort angekommen wähle ich die schweißtreibend steile Schotterpiste nach Bodone, einer Ansammlung von kleinen Häuschen, die am Südhang einer kahlen Bergkuppe auf über 1.100 m ü. NN stehen. Der Blick auf den See von hier oben ist traumhaft, was der Grund dafür sein wird, dass einige dieser Häuschen neue Besitzer gefunden haben und sehr liebevoll renoviert wurden. Ich trinke mein letztes Wasser und mache mich dann auf den Rückweg auf der selben Strecke.

Den späten Nachmittag verbringe ich wieder am und im See. Ich freue mich, diese Tour heute trotz der Wärme gefahren zu sein, denn die Eindrücke waren sehr vielfältig und unterschiedlich zu dem, was ich bisher am Lago di Como gesehen habe. Ich nehme mir für morgen vor, an der Nordflanke des Valle di Livo hinaufzufahren, und verlängere deshalb den Aufenthalt auf dem Campingplatz um einen Tag. Meine Abreise wird also erst am Sonntag sein.