19. Tag (30.08., Samstag): Monti di Vercana, 23 km

Die Nacht war ruhig, ohne Streit in der Nachbarschaft. Dafür startet pünktlich mit dem ersten Glockenschlag um 7:00 Uhr im Zelt der holländischen Großfamilie nebenan das totale Chaos: Plötzlich sind alle wach und jeder hat lautstark was zu meckern. Den Geräuschen nach werden auch diverse Gegenstände bewegt. Ich verstehe nichts, muss aber trotzdem über das kritische Verhältnis 6:3:2:1 grinsen: Denn sechs (6) Personen aus drei (3) Generationen über zwei (2) Wochen in einem (1) Zelt  müssen sich irgendwann in die Haare kriegen, auch wenn sie noch so campingbegeisterte Holländer sind. Ich lasse meine Nachbarn in Ruhe streiten und verziehe mich ans Seeufer, um die Sonne zu begrüßen.

Um 10:00 Uhr schwinge ich mich mit der gewohnten Eleganz auf den Sattel und folge dem Hinweis "Vercana", den ich an einer Abzweigung von der Hauptstraße in Domaso finde. Ohne große Vorwarnung geht es wie erwartet auch gleich ordentlich bergauf und bereits nach wenigen Minuten kann ich den ersten Blick auf Domaso und den Campingplatz werfen. Vercana, oberhalb von Domaso gelegen, ist keine Schönheit, glänzt aber durch Weinberge mit schon fast reifen blauen Trauben und freiem Blick auf den See. An der Kreuzung in Vercana wähle ich die asphaltierte Nebenstraße in Richtung "Monti di Vercana", denn ich will ja auf die Monti hinauf. Der Weg hält was der Wegweiser verspricht und es geht tierisch bergan. Bei der Streckenauswertung stelle ich später fest, dass 850 Höhenmeter in ca. 9,68 Kilometern zu bewältigen waren, was einer durchschnittlichen Steigung von 8,7% entspricht. Viele Passagen haben dabei eine Steigung von über 10%, sind also nur mit einem gewissen Maß an körperlicher Gewalt fahrbar. Da es zudem sommerlich warm ist, läuft mir der Schweiß in Strömen vom Körper und meine nicht allzu schnelle Fahrt ist durch Schweißtropfen auf der Straße markiert. Belohnt werde ich wiederum mit traumhaften Ausblicken auf den See und die umliegenden Berge und mit Passagen durch verhexte Kastanienwälder. Obwohl einige Häuschen am Hang verteilt sind, begegne ich niemandem, den ich zum weiteren Verlauf des Weges fragen könnte. Folgerichtig fahre ich in männlicher Sturheit und mit einer gewissen Experimentierfreude weiter den Berg hinauf. Ich werde schon irgendwo ankommen, da bin ich mir sicher. Im Übrigen ist ja der Weg das Ziel, und der ist wirklich super. Mit Ausnahme von mir wird die Straße auch von vier Autos benutzt, es herrscht also nicht unbedingt starker Verkehr. Als eher unerwartete Verkehrsteilnehmer treffe ich jedoch auf eine Ziegenherde, die es sich auf der Straße bequem gemacht hat. Da die Tiere sehr beeindruckende Hörner haben und Ziegen erfahrungsgemäß unberechenbar reagieren können, beschwichtige ich den Chef der Gang zunächst erst einmal mit einem Portraitfoto. Dann demonstriere ich Stolz, Selbstbewusstsein und Mut und fahre spontan durch den stinkenden und leise vor sich hin meckernden Haufen hindurch. Uff, gut gegangen!

Irgendwann ist die Straße dann so steil (max. 14,3%), dass Betonplatten mit Querrillen anstelle eines Asphaltbelages verwendet wurden. Und kurz darauf ist Tabbiadello, bestehend aus einer Ansammlung von hübsch renovierten Häusern aus roh behauenem Stein und einem kleinen Ausflugsparkplatz, und damit das Ende der Straße erreicht. Ich lasse das Bike stehen und laufe über eine Kuhweide, auf der glockenbehangene Milchviecher einen nervigen Lärm produzieren, hinauf auf eine baumlose Bergkuppe, um den grandiosen Ausblick zu genießen. Unter mir sind die Nordspitze des Lago di Como mit den Mündungen der Flüsse Mera und Adda und das untere Valtellina deutlich zu erkennen, im Osten und Westen erheben sich beeindruckende Berge und in Richtung Süden verschwimmt der See im Dunst. Überraschenderweise sind hier oben auch einige menschliche Wesen zu sehen, die gemessenen Schrittes, mit Wanderstöcken und Rucksack ausgerüstet, durch die Bergwelt schreiten. Es handelt sich ausnahmslos um die Generation Ü65 und ich frage mich, ob ich eventuell in einem Rentnerparadies angekommen bin.

Erst später habe ich erfahren, dass es eine wunderschöne Möglichkeit gibt, von Tabbiadello über Trezzone zum See hinab zu fahren. In Unkenntnis dieser Alternative wähle ich heute für den Rückweg aber die selbe Strecke wie für den Hinweg. Während einer Fotopause in einer Spitzkehre mit einem malerischen Ausblick auf den Lago begegnen mir zwei Biker auf dem Weg bergauf nach Tabbiadello. Er, bereits leicht angegraut und mit kleinem Bierbauch, fährt auf einem Cannondale Bike mit Traumausstattung voran. Sie, ordentlich dauergewellt und frisiert, folgt auf einem ähnlich luxuriösen Bike. Mit geübtem Blick identifiziere ich ein super-teures und knallbuntes Profioutfit, das ohne Frage für den "Giro", die "Vuelta" oder die "Tour" geeignet wäre. Abgesehen davon, dass es mir auf ewig ein Rätsel bleiben wird, wie erwachsene Menschen freiwillig als Werbeträger für irgend welche Konzerne oder Marken durch die Gegend radeln, frage ich mich, welchen Vorteil mir ein 250 oder mehr Euro teures T-Shirt gegenüber meinem ALDI/LIDL-Billigoutfit verschaffen könnte. Während ich so vor mich hin sinniere nähern sich die Beiden mit deutlich vernehmbarem Geschnaufe und hochrotem Kopf.

"Wie weit ist es noch bis nach oben?", fragt er mich in klarem Norddeutsch und mit einem leicht fatalistischen Gesichtsausdruck. Offensichtlich hat er sein Bike-Navi vergessen.

"Cirka 3 Kilometer," entgegne ich grinsend, "allerdings nur bergauf."

"Wie? Noch mehr bergauf?", fragt sie entsetzt.

"Ja klar!", kann ich zu ihrer höchsten Beunruhigung nur bestätigen. Und weil ich gemein bin setze ich noch einen drauf: "Aber keine Sorge, so richtig steil wird es erst kurz vor Tabbiadello."

Völlig konsterniert startet sie eine spontane Diskussion mit ihm über den Sinn und Unsinn derartiger Bergtouren, die bei viel zu großer Hitze viel zu hohe Berge viel zu weit hinauf führen. Als im Grunde sehr höflicher Mensch will ich bei dieser angeregten Unterhaltung nicht stören, verabschiede mich und setze flugs meine Abfahrt fort. Später wird mir klar, dass ich hier einen weiteren Radlertyp identifiziert habe, nämlich den Pseudosportradler. Kennzeichen: Material vom Feinsten und Profioutfit, aber ständig im Clinch mit der mangelhaften Kondition und fehlenden Motivation. Deshalb mein Tipp: Besser mit dem Auto soweit wie möglich den Berg hinauf fahren oder gleich im Tal bleiben, das ist nicht so anstrengend. Oder, noch besser, gar nicht fahren und mit voller Ausstattung das Bike über die Strandpromenade bis zum nächsten Cafe oder Biergarten schieben, damit möglichst viele Passanten die Ausstattung bewundern können und das stylische Outfit nicht ganz unstylisch nach Schweiß stinkt.

Ein Wegweiser zur Alpe di Graglio (1.420 m ü. NN), den ich unterwegs entdecke, bringt mich spontan auf die Idee, dort hinaufzufahren. Ich verdränge jedoch den Gedanken daran, um meine Kräfte für die morgen beginnende Rückfahrt zu schonen. Somit liege ich bereits um 13:00 Uhr ein wenig erschöpft, aber entspannt, wieder am See und lasse das Strandleben träge an mir vorbeiziehen. Die Sauerstoffzufuhr auf der Bergetappe hat meine Gehirnzellen wieder auf Trab gebracht und endlich habe ich eine Antwort auf die Frage, wofür eigentlich die Alpen gut sind. Es gibt zwei klare Gründe für den Schöpfer des Himmels und der Erden, die Alpen gerade dort zu positionieren wo sie sich auch heute noch befinden: Zum ersten halten die Alpen das deutsche Schietwetter ziemlich effizient davon ab, bis nach Italien vorzudringen, sie erfüllen also einen wichtigen Witterungsschutz und sind damit so etwas wie der Regenschirm für eine ganze Nation. Zum Beweis dieser These: Wann und wo hat es auf der diesjährigen Tour zum letzten Mal geregnet? Richtig, vor einer Woche, und zwar in Mittenwald, Deutschland.

Zum zweiten haben es die Alpen so an sich, dass bei einer Querung per Fahrrad und Muskelkraft früher oder später ein Berg zu bewältigen ist. Dies ist für die norddeutschen Schaffellsattellenkerradiohollandradfahrer wie auch für die Flusstalsonntagsradler eine praktisch unüberwindbare Hürde und diese Antisportler bleiben glücklicherweise da wo sie hingehören: In den norddeutschen Gülleniederungen und auf den Flusstalfernradwegen. Auch hier ein eindeutiger Beweis: Während meiner dies- und vorjährigen Aufenthalte im alpinen Raum wurde diese Spezies nicht ein einziges Mal gesichtet.
Möglicherweise gibt es noch den ein oder anderen Aspekt im Hinblick auf die Existenz der Alpen, aber die wesentlichen Gründe sind genannt. Basta.