20. Tag (31.08., Sonntag): Domaso - Andeer, 92 km

"Ihr Matten lebt wohl,
ihr sonnigen Weiden!
Der Biker muss scheiden,
der Sommer ist hin."

aus: Wilhelm Tell (Johann Christoph Friedrich "Fritze" von Schiller, mit leichten Veränderungen)

Der August geht zu Ende, die diesjährige Biketour auch, zwangsweise, denn leider und zu meinem außerordentlichen Bedauern wartet im hohen Norden Arbeit auf mich. Also: Back to the roots,  zurück über'n Berg. SÜDEN adé, Norden o-jeh. Wie zur Unterstützung meiner Abreise haben sich heute einige Wolken über dem Lago versammelt und die Wettervorhersage kündigt für den Abend Gewitter an. Schnell noch bezahlen, den letzten brutalen Espresso hineinschütten und dann los. Bis Verceia geht alles wie gehabt, dann weiter auf dem Italia 6, der zu meiner absoluten Überraschung nicht bereits hinter Verceia auf die SS 36 mündet, sondern völlig genial ausschließlich auf Wirtschaftswegen und Nebenstraßen bis ins Zentrum von Chiavenna führt. Wieso bin ich eigentlich auf dem Hinweg über die mörderische SS 36 gefahren, wenn es diesen super Radweg gibt? Klarer Fall von Dämlichkeit, hoffentlich nicht vererbbar.

Kurz vor Chiavenna gibt es ein paar kleine, aber scharfe Steigungen zum Warmwerden und als Vorgeschmack auf das, was anschließend auf mich wartet: Der Splügenpass, oder, wie der Italiener sagt, Passo dello Spluga. Hmmm, ich liebe diese Sprache... Nachdem ich in Chiavenna ein bisschen Zeit gebraucht habe, die Strada del Spluga zu finden, geht's dann auch sofort bergauf. Kraftmanagement auf kleinster Scheibe vorne und größter Scheibe hinten ist angesagt, denn es warten 30 Kilometer bis zur Passhöhe auf mich, davon ca. 27 Kilometer Steigungsstrecke mit maximal 11%, und unzählige Spitzkehren. Gut, das ist keine wirkliche Überraschung, denn den Splügen bin ich bereits in 2004 gefahren. Eine Überraschung, und zwar eine echt negative, ist allerdings der Straßenverkehr: Ein PKW nach dem anderen, dazwischen Motorradfahrer, die unbedingt die Bergwertung gewinnen wollen, gelegentlich auch mal ein Bus. Meine Entscheidung, an diesem Sonntag den Passo dello Spluga zu fahren, ist also eine weitere Ausgeburt an Dämlichkeit, da diese Strecke insbesondere bei Freizeitfahrern beliebt ist und diese Klientel insbesondere am Wochenende, sprich: heute, die Zeit für eine Querung findet. Ich ärgere mich und fahre weiter, was insbesondere in den Galerien und absolut finsteren Tunneln nicht ganz ungefährlich ist: Wenn alle Verkehrsteilnehmer so fahren würden, wie es der Streckenführung, dem Verkehrsaufkommen und dem eigenen Können entspricht, dann gäbe es sicherlich keine Probleme und die Gefahr wäre gering. Aber den vorbeidonnernden Motorradidioten und semi-sportlichen Sonntagsfahrern traue ich alles mögliche zu, nur eben keine risikominimierende und defensive Fahrweise.

Aber irgendeiner meint es gut mit mir und beschert allen Splügenfahrern am Ortsausgang von Campodolcino eine Vollsperrung der Passstraße. Der Verkehr wird auf die Talvariante umgeleitet, die bis zum Lago di Isola im Tal verbleibt und erst hinter Pianazzo wieder auf die Strada del Spluga stößt. Während ich völlig unschlüssig die Barrieren betrachte, die mitten auf der Fahrbahn aufgestellt sind, erscheinen alte Bekannte auf meiner Schulter und beginnen sofort, massiven Einfluss auf den Entscheidungsprozess zu nehmen. Die tagelange Ruhepause ist offensichtlich vorbei...

Engelchen links: "Eine Straßensperre! Sei ein ordentlicher und folgsamer Teilnehmer am Straßenverkehr, fahr nicht ins Ungewisse und folge der Umleitung."

Teufelchen rechts: "Albern. Hast Du was von einem Erdrutsch oder von Lawinen am Splügen gehört? Lass Dich nicht verarschen und fahre weiter geradeaus, autofreier Sonntag am Splügen ist angesagt!"

Engelchen links: "Das ist bestimmt super gefährlich, wer weiß, was auf der Strecke alles passieren kann."

Teufelchen rechts: "Sei nicht blöd, die einzige Gefahr ist der Straßenverkehr. Fahr endlich los!"

Ich muss nur kurz überlegen bevor ich eine Lücke in der Absperrung nutze, um auf der Strada del Spluga weiterzufahren. Niemand hat's gesehen, Engelchen ist fassungslos und ringt nach Worten, Teufelchen hüpft vor Freude und lacht sich ab. In der Tat, eine ungewöhnliche Reaktion auf die Schultervorschläge, aber die Aussicht auf einen autofreien Sonntag zumindest auf einem wichtigen Teilstück mit immerhin 300 Höhenmetern, zahlreichen Serpentinen und einigen sehr engen und sehr dunklen Tunneln ist zu verlockend als dass ich widerstehen könnte. Und so fahre ich immer auf dem Mittelstreifen bergan und genieße die unerwartete Ruhe und die wunderbaren Ausblicke ins Tal, von wo das Brummen des Ausflugsverkehrs nur noch undeutlich zu vernehmen ist. Die Stimmung bessert sich von Meter zu Meter und völlig entspannt mache ich eine Rast direkt auf der Straße. Ein leicht mulmiges Gefühl bleibt allerdings, denn wenn die Straße wirklich an irgendeiner Stelle nicht befahrbar oder ein Tunnel komplett eingestürzt ist, gibt es keine andere Möglichkeit als zurückzufahren. Weder auf der Berg- noch auf der Talseite der Passstraße sind irgendwelche Alternativen erkennbar, es ist einfach zu steil.

Aber das Glück ist mit mir, ich muss nicht umkehren. Denn der Grund für die Straßensperre ist eine völlig unkritische Reparatur an einem Schutzdach. Da am Sonntag auch in Italien im Straßenbau niemand arbeitet, kann ich ohne weitere Probleme die Baustelle passieren und finde mich 100 Meter weiter am Wasserfall von Pianazzo wieder. In Hochstimmung fahre ich die letzten 400 Höhenmeter bis zum Lago di Montespluga. Leider ist es wolkig und die umliegende Bergwelt hält sich schamhaft bedeckt, trotzdem genehmige ich mir in Montespluga vor der dörflichen Käserei eine ausgedehnte und kalorienhaltige Brotzeit.

Die letzten 3 Kilometer und 200 Höhenmeter bis zur Passhöhe sind dann nur noch eine Kleinigkeit und schnell gefahren. Ich werde wie immer durch die Grenzkontrolle gewunken, ganz im Gegensatz zu einigen vermummten Motorradfahrern, die erst einmal die Köpfe freilegen und alle Dokumente zücken müssen. Von der Nordrampe erreicht gerade ein Pärchen, ebenfalls mit einer nicht ganz federleichten Campingausrüstung beladen, die Passhöhe. Sie ist völlig happy, ihr erster Pass mit dem Bike. Kurz: Die Stimmung ist super, denn what goes up must come down, es lockt die Abfahrt.

Und was für eine Abfahrt: Nach einer größeren Anzahl von Spitzkehren folgt ein gerades Gefällestück, auf dem ich mit 71,3 km/h die Spitzengeschwindigkeit der diesjährigen Tour erreiche. Ich hätte das Bike zwar noch etwas laufen lassen können, aber dann wäre die nächste Kurve möglicherweise nicht so ganz einfach geworden. Kurz darauf ist Splügen erreicht und es geht in schneller Fahrt weiter auf dem Radweg Nr. 2 im Rheintal bis Andeer. Der Campingplatz in Andeer (18,10 sFr inkl. Dusche, subjektive ***) ist eine bewährte Anlaufstelle für Rückfahrten im Rheintal, denn mit einer weiteren Tagesetappe ist von dort ohne Schwierigkeiten der Bodensee zu erreichen. So bin ich also nicht zum ersten und sicherlich nicht zum letzten Mal hier.

Weil ich es mir verdient habe besorge ich mir nach dem Aufbau des Zeltes, dem aromasicheren Verpacken meiner völlig durchgeschwitzten, toxischen Klamotten und ausgiebiger Körperpflege ein Abendbier im Campingrestaurant. Dabei ergibt sich ein Plausch mit einem Gast aus Wales und einem 84-jährigen Dauercamper, beides begeisterte Radler, über Touren, Ziele, den Septimerpass, Hochwasser in Wales und alles mögliche. Später beginnt es dann tatsächlich zu regnen und ein fernes Gewitter schickt noch schwaches Donnergrollen vorbei. Na, ist das keine Bestätigung meiner Theorie zum Sinn und Zweck der Alpen?