21. Tag (Montag, 01.09.): Andeer - Lindau, 151 km

Der nächtliche Regen hat sich verzogen und ich habe alle Ruhe der Welt vor dieser letzten Etappe. Nachdem alles verpackt ist besuche ich deshalb noch den 84-jährigen, der einen Wohnwagen mit Anbau und kleinem Ziergarten bewohnt, um dort gemütlich eine Tasse Kaffee zu trinken und noch ein bisschen zu quatschen. Stolz zeigt er mir ein Foto von seiner Familie mit einigen kleinen Kindern, die heute aber schon alle über 40 sind. Seine Tochter wird demnächst heiraten, einen Deutschen, wie er mit besonderer Betonung erwähnt. Mir wird bei dieser Gelegenheit wieder einmal bewusst, dass ich als Deutscher die deutschsprachigen Schweizer als eine Art deutschen Volksstamm betrachte, die deutschsprachigen Schweizer sich selbst aber völlig anders definieren. Zur Betonung dieser Eigenständigkeit und zur bewussten Abgrenzung hat das Schyzerdütsch in den letzten Jahren insbesondere unter den jüngeren Menschen erheblich an Popularität gewonnen. Vor dem Abschied zeigt er mir noch stolz sein 1a-ausgestattetes Scott-Mountainbike, mit dem er tatsächlich noch Touren fährt. Ich sage noch "Uf Widerluege!" und verspreche, ihn beim nächsten Stopp in Andeer wieder zu besuchen, und dann geht es bei strahlendem Sonnenschein auf die Piste.

Der Radweg führt mich am Rhein entlang zunächst durch Wiesen und Wälder, dann durch die immer wieder beeindruckende Via Mala nach Thusis. Den letzten, leider etwas längeren, Tunnel vor Thusis umfahre ich auf einem dort noch vollständig erhaltenen Teilstück des uralten Weges durch die Via Mala. Steinschlag ist hier zwar nicht auszuschließen, wie zahlreiche Brocken auf dem Weg verraten, aber dafür ist es superschön und definitiv autofrei.

Bis Thusis ging die Fahrt deutlich abwärts, damit es jetzt jedoch vorbei. Ich folge dem Radweg Nr. 6, der zunächst im Tal, später zwischen Rothenbrunnen und Domat / Ems am Hang über dem Rhein verläuft und schöne Ausblicke auf das Rheintal bietet. In Domat / Ems verliere ich den Radweg kurzfristig und gelange in das Ortszentrum. "Wenn ich schon mal hier bin, dann kann ich auch gleich alles Zubehör für eine opulente vegetarische Brotzeit einkaufen", denke ich mir. Aber nix da, alle Läden haben ab 12:00 Uhr Mittagspause. Ich bin in der Schweiz und dann auch noch auf dem Lande, und hier wird die Mittagspause sehr ernst genommen. Wer spricht da noch von der "Servicewüste Deutschland"? Mit weiterhin knurrendem Magen und ortskundiger Hilfe finde ich den Radweg und fahre bis nach Chur, wo ich eine Stadtrundfahrt mache (lohnt sich überhaupt nicht) und mich in einem mega-großen Coop reichlich mit Lebensmitteln, Obst und allem, was der Magen begehrt (mit Ausnahme von Bier und Wein) eindecke. Die ausgedehnte Brotzeitpause verbringe ich direkt am Rhein bei strahlendem Sonnenschein, wobei ich die Sonne genieße, denn in Fahrtrichtung droht eine geschlossene und dunkle Wolkenwand.

Um mich wieder auf norddeutsche Verhältnisse einzustimmen kommt nach dem Mittag starker Wind auf, der mir auf freien Strecken direkt ins Gesicht bläst und ziemlich nervt. In Landquart verlasse ich den Radweg, der im weiteren Verlauf zwar landschaftlich sehr reizvoll durch die Weinberge führt, mir aber zu langsam ist, und ich fahre auf dem linken Rheinuferweg weiter. Ca. 62 Kilometer sind es noch bis St. Margarethen, an der Mündung des Rheins in den Bodensee, und weitere 15 bis Lindau. Wenn ich dort um spätestens 20:00 Uhr aufschlagen möchte, muss ich ein bisschen in die Pedale treten und Tempo machen. Unglaublich: Heute freue ich mich über den alsbald einsetzenden leichten Regen, da mit dem Regen der Wind aufgibt und ich auf dem durchgängig asphaltierten Uferweg meine Geschwindigkeit erheblich steigern kann. Die Fahrt bei so einem Wetter ist kein echter Genuss, insbesondere nicht mit dem Anblick der Rheinautobahn, die zumeist sehr nah verläuft. Spaß macht es trotzdem, auf dieser ebenen Strecke ungehindert einmal über 60 Kilometer richtig Dampf zu machen und einfach nur zu fahren.

Liechtenstein, die fürstliche Steueroase mit dem seit einiger Zeit sehr dubiosen Image, fliegt förmlich auf der gegenüberliegenden Rheinseite vorbei. Wofür sind eigentlich die Bunker auf der schweizer Seite des Rheins mit Schießscharten nach Osten, also nach Liechtenstein bzw. Österreich, gebaut worden? Zur Abwehr von Aggressoren und reumütigen Steuersündern aus diesen merkwürdigen Staaten? Vielleicht fehlt mir das historische Krisenbewusstsein, aber ich kann keinen Sinn in diesen Bauwerken erkennen.

Was ist sonst noch zu dieser Etappe zu sagen? Na gut, ich verfehle wie immer den richtigen Übergang über den Rhein und muss deshalb rechtsrheinisch ein Stück auf der ätzenden 203 (ohne Seitenstreifen, Schwerverkehr, viele Autos viel zu schnell) fahren. Und kurz vor Bregenz regnet es für 10 Minuten richtig kräftig, aber ich bin zu faul das Regenzeug anzuziehen und deshalb anschließend ziemlich geduscht. Positiv ist, dass mich am Seeufer in Bregenz die untergehende Sonne begrüßt und ich den Campingplatz in Lindau (keine Inflation, d.h. wie im vergangenen Jahr 10,10 Euro inkl. Dusche, und nach wie vor subjektive ****) tatsächlich um 20:00 Uhr erreiche und deshalb das Zelt noch bei Tageslicht aufbauen kann.

Später liege ich im Zelt und kann noch nicht richtig fassen, dass die Tour jetzt vorbei sein soll. 3 Wochen fahren, Zelt aufbauen, Zelt abbauen und immer weiter fahren, ohne Plan und nur mit dem SÜDEN als unkonkretes Ziel: Das soll jetzt wieder einem ordentlichen Arbeitsalltag weichen? Ich weiß jetzt schon, dass mir das mal wieder richtig schwer fallen wird. Aber noch bin ich hier, am See, und hoffentlich ist morgen Seewetter, denn ich habe schon ein klares Rahmenprogramm:

"Es lächelt der See, er ladet zum Bade,
der Knabe schlief ein am grünen Gestade ..."

aus: Wilhelm Tell (Johann Christoph Friedrich "Fritze" von Schiller)