22. Tag (Dienstag, 02.09.): Lindau

Der geplante "nette" Tag sieht nun nicht so aus, dass ich gar nichts zu tun habe. Denn ich muss dringend was zu Essen einkaufen und zudem noch die mit der Bahn vorgesehene Rückfahrt klären. Um völlig unabhängig zu bleiben habe ich in diesem Jahr die Rückfahrt ja nicht im Voraus gebucht, was sich am Bahnschalter in Lindau als ziemlich schlechte Idee heraus stellt: Die freundliche Dame am Schalter kann mir kein Ticket verkaufen? Der Engpass bei einer Buchung ist die Beförderung des Fahrrads, für das in allen benutzten ICs eine Reservierung vorgenommen werden muss. Und dies erweist sich für die nächsten Tage leider als unmöglich. Mist! Kurz entschlossen und ein wenig angesäuert (worauf eigentlich, ich bin doch selbst schuld...) verlasse ich den Bahnhof und miete für die Rückfahrt am Mittwoch einen PKW. Da ich ein zwar günstiges, aber nicht flächendeckend vertretenes Verleihunternehmen nutze, muss ich mich mit einer Rückgabe am Airport Bremen zufrieden geben. Hört sich zwar umständlich an, ist nach einigem Nachdenken aber auch gar nicht SO schlecht, da ich dann noch eine kleine Radtour vom Airport Bremen bis nach Hause machen kann. Was ich bei diesen Überlegungen völlig außer Acht lasse ist die Tatsache, dass im Norden schon längst der Herbst mit kühlem Regenwetter und kräftigem Wind eingekehrt ist, diese geplante Radtour also möglicherweise nicht so idyllisch wird oder gar ausfällt.

Nun wo das Pflichtprogramm absolviert ist, begebe ich mich für einen kleinen Rundgang und einen doppelten Espresso wieder auf die Insel, also in die Altstadt von Lindau. Der Espresso in der Röst-Bar direkt am Markt ist noch so gut wie im vergangenen Jahr und braucht den qualitativen Vergleich mit dem Brutal-Espresso in der Poolbar von "El Vele" nicht zu scheuen, wohl jedoch den preislichen Vergleich. Warum ist ein Espresso in Deutschland doppelt so teuer wie in Italien? Als BWLer mit volkswirtschaftlichen Grundkenntnissen ist mir das nicht so ganz klar. Funktioniert da möglicherweise der Markt nicht oder nicht so, wie es sich die VWL im Modell vorstellt? Ich werde mir das Espresso-Problem in einer ruhigen Stunde noch einmal genauer ansehen, nur keine Langeweile im kommenden Semester aufkommen lassen.

Gegenüber der Röst-Bar befindet sich die evangelische Kirche St. Stephan, die ich noch nie von innen gesehen habe. Die Eingangstür ist offen und gibt den Blick frei auf einen schlichten Innenraum, der mit Rokoko-Elementen verziert ist. Da gerade die "Mittags-Insel", eine täglich um 12:00 Uhr gehaltene Kurzandacht, stattfindet und ich nicht weiter stören will, setze ich mich auf eine der hinteren Bänke, lausche der verständlich und frei vorgetragenen Predigt und bin sofort vom Thema eingefangen: Pilgern!

Warum pilgern Menschen?

Warum nehmen sie all die Mühen und Entbehrungen auf sich?

Um den Alltag hinter sich zu lassen?

Um während der Pilgerfahrt zu neuen Erkenntnissen über sich selbst zu gelangen?

Ist Pilgern vielleicht ein Synonym für das Leben, irgendwo starten und ein selbst gestecktes Ziel erreichen?

Ist das Reisen nicht auch eine Form von Pilgern?

Ein interessanter Ansatz, mit dem ich vielleicht eine Antwort auf die Frage bekomme, was mich jedes Jahr umtreibt, die häusliche Ordnung und das gewohnte Umfeld zu verlassen. Ich nehme mir vor, ein bisschen darüber nachzudenken. Und wo gelingt das Nachdenken besser als in der Sonne liegend, am See mit dem Blick über das Wasser und in die fernen Berge. Also schnell zurück zum Zelt, die erforderliche Seeausstattung eingepackt und schon bin ich in Willi's Badewelt.

Neben Willi, wieder ein bisschen dicker und immer noch auf der Suche nach einem Fläschchen Wein, sind noch keine bekannten Gesichter zu sehen. Kein Wunder, es ist auch gerade erst Mittag und die meisten Menschen müssen zu so einer Zeit schließlich arbeiten. Nichts stört also den Frieden und die wunderbare Ruhe, das tiefe Wasser absorbiert alle Schwere des Körpers und des Geistes und es breitet sich ein Gefühl der Leichtigkeit und Schwerelosigkeit aus. Kein Wunder, dass einige berühmte Erfinder in dieser Gegend gearbeitet haben, der See macht den Geist frei und fördert die Kreativität.

Wie war denn das nun mit dem Reisen? Erst einmal bin ich mir nicht sicher, ob Pilgern mit der Form von Reisen, wie ich sie praktiziere, in Einklang zu bringen ist. Denn das Pilgern hat ein Ziel, sei es Santiago de la Compostella, Lourdes oder auch die Wallfahrtskapelle in Bethen. Ich fahre jedoch ohne Ziel durch die Gegend, wenn man die grobe Richtung SÜDEN nicht als Ziel definiert.

Aber andererseits: Bin ich nicht bereits bei der Fahrt durch das Engadin zu der Überzeugung gelangt, dass der Weg das Ziel ist?

Also doch ein Ziel?

Das Fahren als Ziel?

Um durch das Fahren den Alltag zu vergessen?

Um durch Mühen und Entbehrungen den Körper zu beschäftigen und den Geist von den Kleinigkeiten des Alltags zu befreien?

Sich mühen, um an die wirklich wichtigen Dinge denken zu können - per aspera ad astra?

Ja, ich denke, das ist es. Seneca hat Recht, beim Anstieg zur Pfeishütte im wörtlichen Sinne, beim Nachdenken über den Sinn der Radtour im übertragenen Sinne.

Und die Reise als Synonym für das Leben? Lebe ich so wie ich reise und reise ich so wie ich lebe? Ich denke: Ja. Eine grobe Richtung, nämlich der SÜDEN, ist vorgegeben. Das ist die Vision. Und es existiert ein tägliches Nahziel, das sich kurzfristig und unter dem Einfluss der Beiden auf meiner Schulter spontan ändern kann, mehr aber auch nicht. Und vor allem existiert kein konkretes Fernziel, kein Karriereziel, kein finanzielles Ziel, kein persönliches Ziel. Anstatt stur und mit Scheuklappen versehen ein einmal formuliertes Ziel zu verfolgen, lasse ich mich lieber vom Augenblick leiten und ändere auch schon mal spontan den Weg, wenn sich verlockende Gelegenheiten ergeben sollten. So organisiere ich meine Radtouren, oder besser: So lasse ich den Radtouren freien Lauf, und so hat sich beispielsweise auch mein Berufsleben entwickelt. Aus Zufällen, Gelegenheiten am Wegesrand und spontanen Ideen ist etwas geworden, was ich so nie geplant hätte, vom Leben als Angestellter in die Selbständigkeit in die Hochschule. Karriereziel? Fehlanzeige, es ist einfach so passiert.

Na gut, ohne Ziel entgeht mir eine Menge. Denn nur bei Existenz eines Ziels kann eine Kontrolle der Zielerfüllung durchgeführt werden mit Erfolgserlebnissen bei Zielerreichung und Verhaltensänderungen bei Fehlschlägen. Und wird der Mensch nicht erst durch Misserfolge stark, entwickelt er sich nicht erst durch die Meisterung von Schwierigkeiten? Das ist sicherlich alles richtig und anhand einer Unzahl von Lebensläufen auch belegbar. Aber kann ich nicht auch ohne konkrete Ziele, nur mit einer Vision erfolgreich leben? Oder ohne Ziel eine super Radtour nach irgendwo fahren?

Um William Shakespeare zu zitieren: "Wenn man nicht weiß, wohin man will, so kommt man am weitesten." 

Und Deng Xiaoping sagt es so: "Den Fluss überqueren, indem man nach Steinen tastet."

Verständlicherweise zwei meiner Lieblingszitate. Kein engstirniges Festhalten an einem einmal gefassten Aktionsplan, sondern die Einschätzung der jeweiligen Situation und deren Potenzial, das dann gegebenenfalls kurzfristig ausgenutzt wird. Francois Jullien, Philosoph und Sinologe, hat dies als ein wesentliches Element für den Erfolg chinesischer Unternehmen in einem unsicheren, sich rapide ändernden Umfeld ausgemacht. Ich sehe das genau so und fühle mich in meiner eigenen Lebensphilosophie gestärkt. Vielleicht können wir, die deterministisch denkenden Westler, da etwas von den Asiaten lernen? Ich werde dieses Thema in "Untenehmensführung" vertiefen, nicht vergessen!

Ein anderer Faktor spielt, wenn ich ehrlich bin, auch eine ganz wesentliche Rolle: Ein Ziel ist dafür da, erreicht zu werden. Ich möchte den Frust des Nichterreichens nicht gerne riskieren und werde mich deshalb ganz gehörig anstrengen. Zudem bin ich scharf auf die Belohnung, sei sie nun materiell oder immateriell. So funktioniert Personalführung in den meisten Unternehmen und so habe ich das auch während meines Angestelltendaseins erlebt. Ziele setzen mich also unter Druck, einen Druck den ich mir zumeist selbst auferlege. Die Reaktion: Homo faber lässt grüßen. Spaßfaktor? Tendiert gegen Null. Denn eigentlich bin ich ein Homo ludens, Spaßfaktor maximal, Motivation super und das Beste: Ich komme auch noch weiter, siehe Shakespeare.

Tja, soweit der kleine Ausflug ins Ziellose. Wer's noch nicht ausprobiert hat: Einfach mal eine Vision formulieren (SÜDEN!), und dann: "Schau'n mer mal!", wie der Kaiser zu sagen pflegt. Ich jedenfalls liege am See, "die Sonne scheint mir auf den Bauch, das soll sie auch, ich seh darin kein Drama" (immer noch nicht), es geht mir super gut und wenn ich auf die letzten drei Wochen zurück blicke, muss ich sagen: Hat sich gelohnt, hätte nicht besser laufen können.

Aber ganz aktuell bin ich vom Philosophieren erschöpft und ich zerstreue mich mit einem kleinen Schläfchen und dem Bau von Steintürmen, diesen fragilen Gebilden aus Kieseln, bei denen immer nur ein Stein auf den darunter liegenden Stein gesetzt wird und die bei der kleinsten Unachtsamkeit und Fehleinschätzung des Schwerpunktes zusammenkrachen. Der Steinturm als Sinnbild für das LEBEN, fragil, immer vom Einsturz bedroht und irgendwann am Ende? Oder als Ausdruck der menschlichen Gesellschaft, mit "oben" und "unten", sich nach "oben" verjüngend, aber dort schon bei geringsten Störungen besonders absturzgefährdet? Oder als Ebenbild der globalen Finanzarchitektur, Design: AAA ("Triple A"), Stabilität: D ("Junk")?

Oh je, schon wieder ein philosophischer Ansatz. "Getz iss aber wirklich juht", sagt der Westfale in mir, wie immer bei solchen Gelegenheiten. Als eine nun tatsächlich vom Philosophieren ablenkende Maßnahme nehme ich erst an einer Verkostung heimischen Rotweins teil, den "der Andreas" aus heimlichen Beständen mit an den See geschmuggelt hat, und stürze mich dann mit zwei anderen sportlichen Badegästen in den 22 Grad warmen See. Wir schwimmen megaweit hinaus nach SÜDEN, also in Richtung Schweiz. Auf dem Rückweg, noch ziemlich weit vom Ufer entfernt,  frage ich die mit großem sportlichen Ernst rudernden Insassen eines vorbeifahrenden Vierers mit Steuerfrau in gebrochenem Englisch, ob dies schon Germany sei. Aber manchmal sind Süddeutsche ziemlich spaßfrei, glotzen uns nur mit einem reichlich blöden Gesichtsausdruck an und rudern schnell weiter. Bloß keinen Kontakt mit illegalen Einwanderern und den brothers and sisters in Africa.

Den Sonnenuntergang verbringe ich "chillig" (O-Ton Simon S.)  bei einem erlesenen Kaltgetränk an der Strandbar des Campingplatzes. Neben mir sitzt Alf und telefoniert nach Hause. Obwohl ich es nicht hören will, vernehme ich laut und deutlich die absolut unsinnige Feststellung, dass es in der Schweiz beim Einkaufen das gleiche Zeugs gebe wie in Deutschland. "Welch ein Unsinn", denke ich mir. Der hat noch nie Pain Paillasse, St. Gallener Ruchbrot, Gruyère surchoix und Latwerge Aufstrich probiert. Dabei fällt meinem Kleinhirn ein, dass ich Hunger habe. Aber das bisschen was ich esse, kann ich auch trinken, sagt das Großhirn, und so bleibe ich vorsichtshalber bei Flüssignahrung, Prost.