9. Tag (Montag, 2.08.): Stilfs

"Da haben wir den Salat", denke ich beim frühmorgendlichen Blick an den Himmel. Nach einer sternenklaren Nacht hat es sich zum Morgen bewölkt und die Berge verhüllen sich schamhaft in dezentem Grau. Soll es denn tatsächlich heute gewittern und eine Kaltfront durchziehen? Während ich im Aufenthaltsraum des Campingplatzes im Internet einen aktuellen Wetterbericht herunterlade und das Regenradar für die Provinz Bozen checke, kommt Wuffel aufgeregt angelaufen: "Du musst ganz schnell kommen!", ruft sie. "Das ganze Zelt ist voller Ameisen!" Ich bin etwas irritiert und sehe mir das Ganze einmal an. Tatsächlich, einige Tausend Ameisen haben sich entschlossen, heute auszuschwärmen und das heimische Nest zu verlassen. Einige Hundert von ihnen haben sich auf das Innenzelt verirrt und sorgen bei Wuffel für mittelschwere Panik. Ich kann sie beruhigen, weiß aber auch genau, dass Ameisen vorzugsweise vor Gewittern schwärmen...

Am frühen Nachmittag beschließen wir trotzdem, eine kleine Runde auf einen nahe gelegenen Berg zu fahren. Der Einstieg ist schnell gefunden und sofort geht es heftig bergan. Die kleinste Übersetzung ist angesagt und so kommen wir im Schweiße unserer Angesichte mühsam und langsam voran. Der Weg präsentiert sich zunächst als ein echtes Bike-Highlight: Sehr gut befahrbarer, zweispurig, mit Gras bewachsener Untergrund, wunderschöne Ausblicke auf das Etschtal, den Ortler und die Bergwelt im Norden. Einfach nur schön. Dabei scheint gelegentlich sogar die Sonne, was nur Maike wegen ihres Sonnenbrands nicht so ganz gefällt.

Leider wird aus dem zweispurigen Fahrweg im weiteren Verlauf ein waschechter Single-Trail mit Wurzeln, Felsen und Treppen. Das Wetter hat sich zudem verschlechtert und es beginnt leicht zu regnen. Das Fahren über regennasse und glitschige Steine erscheint uns zu gefährlich und so wird das Bike die meiste Zeit geschoben oder sogar getragen, was kein echter Genuss ist. Obwohl der Regen bereits nach kurzer Dauer aufhört, verliert Wuffel nach einer längeren Tragepassage durch eine regennasse und steile Bergwiese die Lust am Weiterschieben bzw. -tragen und ihre Kondition weist auch schon echte Defizite auf. So beschließen wir nach längerem Hin- und Herdiskutieren, dass wir uns trennen: Wuffel fährt über Stilfs zurück zum Camping und ich werde versuchen, den nicht mehr allzu fernen und durch einen Sendemast gut erkennbaren Gipfel des Montoni (1.971 Meter) über die Schartalm zu erreichen.

Ein kurzer Blick zurück und ich sehe Wuffel hundert Meter unter mir, wie sie gerade den Hofplatz einer Alm überquert und hinter einen Stallgebäude verschwindet. Plötzlich lautes Geschrei und Hundegebell! Ich sehe Wuffel, wie sie von zwei Hunden verfolgt wie ein geölter Blitz das Hofgelände verlässt, beide Hunde dicht auf ihren Fersen. "Das kann doch nicht wahr sein", denke ich, "der Teufel soll die Scheißviecher holen." Auf der Stelle kehre ich um, in der Hoffnung, vielleicht noch etwas zur Klärung der Situation bzw. zum Erwürgen der Köter beitragen zu können. Aber als ich endlich das Hofgelände erreiche, ist Wuffel schon weit weg. Einer der Hunde wird auf mich aufmerksam und fängt an zu Bellen, wird aber von einer Frauenstimme zurück kommandiert. So kann ich ohne Belästigung das Hofgelände passieren und spurte hinter Wuffel her.

Das Handy gibt Laut, Wuffel ruft an und will mich vor den bissigen Kötern warnen. Sie ist ziemlich aufgelöst und heult, aber nach einer Minute schneller Fahrt habe ich sie eingeholt und kann sie beruhigen. Sie hat offensichtlich den größeren der beiden Hunde mit dem Fuß an der Nase getroffen und ist deshalb ohne einen Wadenbiss davon gekommen, ganz schön tough die Kleine.

Alleine weiterzufahren ist nach diesem Zwischenfall aus dem Programm gestrichen. Deshalb geht es gemeinsam auf super steilen Wegen hinab nach Stilfs, einem kleinen, vom Tourismus weitestgehend verschonten Örtchen mit schmalen, sehr steilen Gassen, teils renovierten, teils nicht renovierten Häusern in einer beeindruckenden Hanglage. Obwohl es wirklich sehr steil ist, mag ich einem Verkehrsschild an der Kirche nicht recht glauben: Vor 40% Gefälle wird dort gewarnt. Geht das überhaupt?

Wir besichtigen die Kirche und den Kirchhof mit vielen eisernen Kreuzen und versorgen uns in einem kleinen DeSpar mit Schüttelbrot und Orangensaft gegen drohende Unterzuckerung. Der DeSpar ist ein echter Tante-Emma-Laden mit einer waschechten Tante Emma an der Kasse, die alles Lebensnotwendige für die dörfliche Nahversorgung anbieten kann: Lebensmittel, Einmachgläser, Bettwäsche, Kleidung, Spielsachen sind auf den ersten Blick zu sehen, alles Weitere ist sicherlich auf Nachfrage erhältlich. Aber nicht nur das: Über dem Eingang prangt ein "Sali E Tabacchi" Schild, Blech, weiße Schrift auf schwarzem Grund, mit einem übergroßen "T" als deutlicher Hinweis darauf, dass in diesem Allround-Fachgeschäft auch Salz und Tabak gekauft werden können. "Salz und Tabak?", denke ich, "was für eine merkwürdige Kombination…", und kann keine Logik in diesem Schild erkennen. Später, nach dem Ende der Tour, werde ich in Erfahrung bringen, dass der Verkauf von Tabakwaren in Italien nur speziell konzessionierten Läden vorbehalten ist. Bis 1969 erstreckte sich diese Konzession auch auf den Verkauf von Salz und ein konzessionierter Laden war mit "Sali E Tabacchi" bzw. in der Provinz Bozen auch "Salz und Tabak" gekennzeichnet. Salz kann inzwischen zwar konzessionsfrei überall verkauft werden, das Schild mit dem großen weißen "T" ist jedoch geblieben. Sind die Italiener etwa traditionsbewusst? Oder einfach nur träge? Oder welche Begründung für das Beibehalten dieses Schildes mag sonst noch existieren?

Während wir vor dem DeSpar auf einer Mauer sitzen und unser Schüttelbrot knabbern, geschieht um uns herum das dörfliche Leben. Mutter fährt mit der Vespa und großem Koffer zum Einkauf, der italienisch sprechende Nachbar versucht vergeblich seinen bellenden Flokati davon abzuhalten, unser Schüttelbrot zu stibitzen, der Sohn des Hauses kommt mit seinem Kleinwagen rückwärts die steile, enge und auch noch durch eine rechtwinklige Kurve verschärfte Gasse hinauf gefahren, um in eine Garage einzuparken, eine Katze schert sich nicht um den bellenden Flokati und kreuzt selbstbewusst die Gasse, die schwarzhaarige Dorfschönheit von nebenan huscht vorbei, ein "zuckersüßer Rollerfahrer" (O-Ton Wuffel) fährt leider nur einmal, dafür aber lächelnd vorbei, Tante Emma bringt drei Stücke Erdbeerkuchen ohne Sahne ins Haus gegenüber und lässt ihren Laden bzw. die Kasse allein, ein vorbei laufendes älteres Paar grüßt freundlich und wir sitzen in unserem Radler-Outfit mittendrin und fallen natürlich sofort auf wie bunte Hunde. Irgendwie witzig und absolut authentisch, das Dörfchen gefällt uns.

Der Rückweg hält noch eine steile Schiebepassage auf einem Wanderweg in Richtung Hauptstraße bereit, und dann geht es in rasender Fahrt auf der Passstraße abwärts bis an den Ortseingang von Prad. Dort hat ein barfüßiger Einheimischer ein Grundstück an der Straße in einen "Art"-Park umgewandelt: Aus Müll, Schrott und Skeletten hat er diverse Installationen zusammen geflickt. Seine Kunstwerke haben für ihn mystische Bedeutung, erklärt er uns, und er fühle sich damit in der Tradition der nordamerikanischen Indianer. Wir wechseln ein paar Worte mit ihm, stellen fest, dass er möglicherweise ein wenig wirr ist und dass er für eine Fotoerlaubnis einen Euro verlangt und fahren deshalb bald weiter. Merkwürdige Menschen gibt es eben überall.

Am Abend treffen wir vor der Rezeption auf zwei weitere Radler. Einer von ihnen fährt ganz bewusst die Via Claudia Augusta und bekräftigt uns in der Meinung, dass der Fernpass das bislang ätzendste Stück der Strecke war. Er hat darum mit seinem beladenen Tourenrad die Mountainbike-Strecke durch den Wald genommen, d.h. er hat sein Bike aufgrund der Streckenverhältnisse den Berg hinauf sowie wieder herunter schieben müssen. Keine wirkliche Alternative zur Fahrt auf der Straße. Er wohnt übrigens in Bamberg und bestätigt mich in der Auffassung, dass der Spezi-Keller der weltschönste Bierkeller ist.

Der andere Radler scheint ein echter Gewaltstourenradler zu sein, denn er hat die Strecke GAP - Prad, d.h. den Fernpass und den Reschenpass, in einem Tag bewältigt, was wir anerkennend als stramme Leistung würdigen. Ausgangspunkt für ihn war der Campingplatz in Grainau, wo er ähnliche Erfahrungen wie wir machte. Seiner Meinung nach gehört der Campingwirt auf Drogenentzug oder in die Loisach geschmissen und wir können ihm dabei nur beipflichten. Heute ist er "zur Erholung" auf dem Stilfser Joch gewesen und berichtet von ziemlich viel Regen und wenig Fernsicht. Es war also die richtige Entscheidung, diese Strecke heute nicht zu fahren.

So sitzen wir noch bis elf Uhr vor der Rezeption und quatschen. So langsam zieht jedoch ein Gewitter auf, es wird stürmisch und wenig später beginnt es erst leicht, dann stärker zu regnen. Wir haben bereits am Mittag vor unserer Abfahrt alles regensicher verpackt und so sitzen wir mit Regenzeug bekleidet in unserem aufgeräumten Zelt, wischen die Pfützen auf und warten auf ein Ende des Regens. Gegen drei Uhr morgens ist dann alles überstanden und wir kriechen in unsere Schlafsäcke. Diese Regennacht war zwar ätzend, aber, wie sich später noch herausstellen sollte, eine absolute Lachnummer.