24. Tag (Dienstag, 17.08.): Tremalzo 3

Ein früher Blick aus dem Zelt: Nur wenige flache Wolken, Sonnenschein. Ein etwas späterer Blick auf das Satellitenbild zur Wolkenbildung im Alpenraum: Das Tiefdruckgebiet über Deutschland schickt seine Wolken bis zum Alpenhauptkamm und hat heute nicht genügend Energie, auch Norditalien in sattes Grau zu verhüllen. So soll es sein! Für uns ist dies das Startsignal zum dritten Versuch, den Tremalzo zu fahren.

Wie immer sind wir nicht besonders schnell in den Vorbereitungen und zudem muss Wuffel noch einige kritische Fragen zu ihrem Studienplatz klären. Aber um Mittag stehen wir auf dem Schiff nach Limone, um von dort den Einstieg in das Val di Bondo zu erreichen. Die schmalen Gassen von Limone sind wie immer voll gepfropft mit Scharen von Touristen, was kein Wunder ist, denn Limone ist wirklich ein Örtchen wie aus dem Bilderbuch. Der Name des Ortes ist identisch mit dem italienischen Wort für "Zitrone", ein deutlicher Hinweis auf eine botanische Besonderheit dieses Ortes: Hier wachsen in einigen Gärten in der Nähe des Seeufers tatsächlich Zitronenbäumchen. Und auch sonst ist die Vegetation sehr mediterran, so wie sie erst einige hundert Kilometer weiter südlich zu erwarten wäre, in den Gärten stehen Dattelpalmen und blühende Bougainvillen zieren die Hausfassaden.

Aber Limone ist ja nicht unser Ziel und so begeben wir uns auf den Anstieg in Richtung Vesio, einem Ortsteil von Tremosine, der auf einer ziemlich steilen Straße mit vielen Ausblicken auf den Lago di Garda den Berg hinan führt. Die Sonne scheint schon seit dem frühen Morgen auf diesen Hang, Schatten ist nur selten zu finden und wir müssen ganz schön schwitzen, um die Höhendifferenz von ca. 550 Metern zu überwinden. Jeder Brunnen wird für eine kleine Erfrischungspause genutzt. Kurz vor Vesio geht es dann ins Val di Bondo, an dessen Ende der Passo Nota auf uns wartet. Die einspurige, für motorisierte Zweiräder gesperrte Straße ist asphaltiert und wenig befahren. Zunächst geht es mit mäßigen Steigungen immer an einem Wasserlauf entlang, der durch den Regen der vergangenen Woche gut gefüllt ist und an vielen Stellen zu einem erfrischenden Bad einlädt. Später wird es steiler und wir kurven mit 13 Kehren bis auf 1.200 Meter hinauf. Die Bergwelt um uns herum ist schroff, steil und grün wie in den Tropen und unterscheidet sich damit sehr deutlich von den kahlen Kuppen des Monte Baldo auf der gegenüberliegenden Seite des Lago di Garda. Kein Wunder, bei so viel Regen und Wärme.

Für eine Einkehr auf dem Passo Nota ist es leider schon zu spät und wenn wir den Tremalzo noch bei einigermaßen Helligkeit erreichen wollen, müssen wir uns nun sputen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass wir die Geschwindigkeit erhöhen, denn nun beginnt eine Schotterpiste, die das Herz eines jeden Downhillfahrers höher schlagen lässt. Für den Anstieg bedeutet dies jedoch: Höchste Konzentration und verminderte Geschwindigkeit. Wuffel überrascht durch absolut sichere Fahrweise ohne Fahrfehler. "Ich hasse Schotter!", hat sie zwar zu Beginn der Schotterpiste gesagt, tatsächlich fühlt sie sich aber auf dieser Strecke, die hohe Ansprüche an Technik und Kondition stellt, ganz offensichtlich ziemlich wohl. So schlängeln wir uns gut gelaunt und immer wieder von atemberaubenden Ausblicken, tiefen Abgründen und schroffen Felsvorsprüngen fasziniert den steilen Hang hinauf.

Die Strecke über den Tremalzo ist, wie einige andere Wege und Straßen in dieser Gegend auch, ein Relikt des ersten Weltkrieges. Sie hatte also nie eine wirtschaftliche Bedeutung, dafür jedoch einen militärischen Zweck hinter der Frontlinie zwischen Italienern und Österreichern zu erfüllen. Wir sind uns einig, dass dies im Nachhinein ein Glücksfall für alle Mountainbiker ist und bewundern die Ingenieure, die in diesen Steilhang eine derart abenteuerliche Straße hineingebaut haben.

Vor zwölf Jahren bin ich diese Strecke zum ersten Mal gefahren. Damals war der Tremalzo noch eine Art Geheimtipp unter Bikern, der noch nicht in jedem Bikeführer für den Gardasee als absolutes Muss empfohlen wurde. Mit „Geheimtipp“ will ich jedoch nicht sagen, dass früher alles besser war. Ich bin zwar in einem Alter, wo sich gelegentlich schon mal Sentimentalität und Wehmut einschleichen, aber die Straße über den Tremalzo war in einen definitiv schlechteren Zustand als heute und drohte an einigen Stellen völlig den Hang hinab zu rutschen. Grund dafür war der Auto- und Motorradverkehr. Ja, kein Witz, der Passo Tremalzo war auf ganzer Länge für motorisierten Verkehr mit Ausnahme von LKW’s und Bussen freigegeben! Und zahlreiche Auto- und Motorradfahrer nutzten diese Gelegenheit, ohne Anstrengungen in eine sonst nur Wanderern und Mountainbikern vorbehaltene Bergregion vorzudringen, auch wenn die Straßenverhältnisse dies eigentlich nicht mehr zuließen.

An einem späten Nachmittag im Sommer des Jahres 1998 war ich auf dem Anstieg ungefähr auf der Hälfte zwischen Passo Nota und der Passhöhe, als ich über mir Motorengejaule wahrnehme. Dem Geräusch nach versuchte ein PKW sich bei hohen Drehzahlen und mit durchdrehenden Reifen aus einer Notlage zu befreien. Als ich zehn Minuten später die entsprechende Stelle erreichte, musste ich unwillkürlich über die Szene grinsen, die mir dort geboten wurde. Ein Italiener mit Gattin und kleinem Kind hatte den nagelneuen VW Passat in einer Kehre auf Grund gesetzt und sich bei den Befreiungsversuchen hoffnungslos festgefahren. Er war ziemlich nervös, seine Gattin war pausenlos und lautstark am Meckern, das Kind spielte in Nähe mit Steinen herum und eine Gruppe von Motorradfahrern hatte auf dem Weg ins Tal Halt gemacht, um die Rettungsversuche mit ebenfalls lautstarken Kommentaren zu begleiten. Italien life, welch ein Genuss! Mit meinem Tipp, doch einfach mal den Wagenheber und ein paar dicke Brocken zu Hilfe zu nehmen, konnte das Auto dann tatsächlich wieder flott gemacht werden. Die Ehe war gerettet, die Motorradfahrer hatten etwas zu diskutieren und ich konnte mich fühlen. Vermutlich hat es viele solcher Szenen gegeben, so dass diese Traumstrecke letztendlich und glücklicherweise für den motorisierten Verkehr gesperrt wurde und wir nun die Stille hier oben genießen können.

Es ist während unseres Anstiegs ziemlich spät und damit auch merklich kühler geworden und zudem haben wir bis auf einen Müesliriegel unseren Proviant restlos aufgefuttert. Es wird also Zeit, dass wir die Passhöhe erreichen und uns auf den Rückweg machen. Ein längerer Tunnel führt uns auf eine andere Flanke des Berges und wir können die letzten Kehren erkennen. Hier ist die Beschaffenheit der Straße leider ziemlich schlecht, anstehender Fels und tiefer, grober Schotter wechseln sich ab und fordern noch einmal volle Konzentration bei maximalem Krafteinsatz.

Auf der Passhöhe befindet sich ein Tunnel, der die inzwischen schattige, gelegentlich von Wolken durchzogene Ostflanke des Berges mit der immer noch sonnigen Westflanke verbindet. Wir sind überglücklich, im dritten Versuch endlich diesen Ort erreicht zu haben und fallen uns in die Arme. Für eine ausgedehnte Pause haben wir jedoch keine Zeit, denn die Abenddämmerung hat bereits das Tal erreicht. Schnell ein paar Fotos gemacht, den letzten Müesliriegel geteilt, alle Klamotten angezogen und schon geht es wieder hinab. Die Strecke ins Tal ist bis zur Rifugio Garda zunächst ordentlich geschottert, dann bis zum Lago di Ampolla asphaltiert und erfordert somit keine besonderen Downhill-Fähigkeiten. Die in markantem Rot gestrichene Rifugio Garda ist aufgrund der späten Uhrzeit schon geschlossen, was uns jedoch nicht besonders ärgert, denn für einen Stopp haben wir nun leider keine Zeit: Die Nacht droht, wir haben keine Beleuchtung dabei und es sind noch mehr als 40 Kilometer zu bewältigen.

Bis zum Lago di Ledro reicht die Helligkeit noch aus, dass wir selbst die Straße erkennen und auch von den wenigen Autofahrern erkannt werden. Schließlich wird es jedoch so dunkel, dass wir die Straße nur sehen, wenn hinter uns ein Auto naht. Ein ernsthaftes Problem haben wir immer dann, wenn ein Auto von vorne kommt und uns blendet. Und einmal wird es sogar lebensgefährlich, als ein entgegen kommendes Auto überholt wird und uns der überholende Fahrer ganz offensichtlich nicht sieht. Genußvolles Abfahren durch das Val di Ledro? Absolut nicht, denn das anfangs nur leicht mulmige Gefühl ist inzwischen einer leichten Panik gewichen und wir fühlen uns reichlich schlecht auf unseren Bikes.

Jetzt auch noch die stockdunkle und schlecht gesicherte Ponale fahren? Wir diskutieren das Problem und unsere Optionen und entscheiden uns für den Straßentunnel, der das Val di Ledro mit Riva verbindet. Vorteile: Der Tunnel ist beleuchtet, es drohen keine Abhänge und es liegen keine Brocken auf der Fahrbahn. Allerdings gibt es auch Nachteile: Der Tunnel ist 3,3 Kilometer lang, für Fahrräder ganz offiziell gesperrt und hat keinen Seitenstreifen. Also mit voller Kraft, d.h. auf dieser abschüssigen Strecke mit mehr als 50 km/h, hinab ins Tal.

Ein echter Höllentrip! Entgegen kommende und überholende Autos verursachen einen unglaublichen Lärm, die Abgaskonzentration ist hoch und verursacht Husten und es ist sehr staubig. Definitiv schlecht für die Gesundheit und keine Empfehlung, aber immer noch besser, als auf der Ponale in den Abgrund zu stürzen. Am Ende des Tunnels wartet wieder eine unbeleuchtete Straße auf uns, allerdings nur ein kurzes Stück, und dann verirren wir uns in den nächsten, brandneuen Straßentunnel, der sicherlich ebenfalls für Radfahrer gesperrt ist. Der Tunnelausgang führt uns glücklicherweise direkt an den Hafen und mitten in das touristische Nachtleben von Riva. Endlich vorbei! Dieser Blindflug durch Nacht und Tunnel war echt zum Kotzen! Eine super Tour, allerdings mit einem saublöden Abschluss.

Völlig ausgehungert steuern wir "Buddha Food & C", einen orientalische Grill in der Fußgängerzone von Riva, an und decken dort unseren Bedarf an Kalorien mit einem opulenten Kebab für Wuffel und vegetarischen Reis-Käse-Bällchen für mich. Schmeckt überraschender Weise echt gut, aber wir sind so ausgehungert, dass wir auch alles Andere gegessen hätten. Mit unseren verschwitzten Bike-Klamotten und ziemlich stinkend lassen wir uns vor dem Grill in der Fußgängerzone nieder, freuen uns über eine nicht identifizierbare Compilation eines unbekannten DJ's, die unüberhörbar aus dem Grill heraus schallt, und begaffen ganz diskret das in Scharen vorbeiwandelnde Volk:

Italienische Familien mit kleinen, völlig übermüdeten und quengeligen Kindern. Super aufgemotzte weibliche Teenies, die aussehen, als wenn sie gerade auf dem Weg zur Arbeitsstelle auf dem Straßenstrich sind. "Normal" aufgemotzte weibliche Teenies, deren Outfit es ohne Probleme auf das Cover einer Modezeitschrift schaffen könnte. Männliche Teenies mit und ohne weibliche Begleitung, die sich trotz der permanenten Überflutung mit weiblichen Reizen betont lässig geben. Ältere Paare, bei denen der weibliche Teil krampfhaft versucht, die unvermeidbaren äußeren Folgen des Alterns zu vertuschen. Alte Menschen, die erkannt haben, dass jegliche Vertuschungsversuche völlig zwecklos wären, langsam über das Pflaster schleichen und sich durch absolut gar nichts beeindrucken lassen. Ab und zu ein verspäteter Biker auf dem Rückweg von einer ausgedehnten Tour auf dem Weg in die Unterkunft. Tja, langweilig ist es nicht.

Als wir schließlich auf dem Campingplatz ankommen, stellen wir zu unserem Entsetzen fest, dass wir im Laufe des Tages ziemlich dicht zugezeltet wurden: Zwei Neuzugänge haben ihre Zelte mit nur geringem Abstand zu unserem Zelt aufgeschlagen. Es ist aber niemand zu sehen und wir vermuten, dass die Insassen bereits in ihren Schlafsäcken liegen und friedlich schlummern. Welch ein Irrtum! Denn als wir schließlich in den Schlafsäcken liegen und selbst friedlich schlummern wollen, haben unsere neuen Nachbarn, drei Italiener, ihren Auftritt. Und was für einen Auftritt: Ohne Rücksicht auf andere Campinggäste zu nehmen, laut quatschend, hustend und lachend, bedienen sie alle Klischees, die ein Deutscher von Italienern nur haben kann. Um mich aufzuregen bin ich definitiv zu müde, also versuche ich es mit Ignorieren, was aber nicht so richtig funktioniert. Unsere Nachbarn fallen glücklicherweise irgendwann in Schlaf und auf der Zeltwiese kehrt wieder Ruhe ein.