25. Tag (Mittwoch, 18.08.): Rovereto

Der Tag beginnt genau so grauenvoll wie der Vorabend geendet hat, denn bereits um halb sieben erwachen unsere Zeltnachbarn und beginnen sofort, laut zu quatschen und über allen möglichen Schwachsinn zu lachen. Brauchen die eigentlich keinen Schlaf? Einer der Drei hat einen bellenden Husten, mit dem er die ganze Zeltwiese beschallt. Bei der tschechischen Familie im Zelt nebenan wird das Baby aus dem Schlaf gehustet und ich denke mal, dass auch die meisten anderen Campinggäste aufgeweckt wurden. So ein blödes, rücksichtsloses Pack! Aber es gibt Hoffnung: Die Drei packen ihre Siebensachen zusammen und bauen die Zelte ab, gut so. Es handelt sich übrigens um Motorradfahrer mit superschnellen Riesenmaschinen. Ob die auch so rücksichtslos fahren wie sie sich hier benehmen? Wenn ja, dann möchte ich denen nicht auf der Straße begegnen.

Der Vormittag vergeht mit frühstücken, Espresso trinken und Tagebuch schreiben wie im Fluge und gegen Mittag begeben wir uns auf den Weg nach Rovereto, um dort im Bahnhof ein Ticket für die Rückfahrt zu buchen. Über die Zugverbindungen haben wir uns bereits im Internet informiert und so wissen wir, dass es zwei Möglichkeiten gibt, um mit der Bahn von Rovereto nach München zu gelangen: Da wäre zunächst eine Reise mit dem Regionalzug, in dem die Mitnahme von Fahrrädern dank eines Fahrradabteils problemlos möglich ist. Nachteilig ist die Fahrzeit von mindestens sechseinhalb Stunden und die Tatsache, dass mindestens zwei Mal, bei einigen Verbindungen auch vier Mal umgestiegen werden muss. Nicht wirklich ein Burner.

Die flinke Alternative zum Regionalzug ist der EuroCity, der alle zwei Stunden nach München geht und für die Strecke zwei Stunden weniger benötigt. Wir frohlocken als wir entdecken, dass mit der Verbindung um viertel vor vier auch Fahrräder transportiert werden können, wenn vorab ein Stellplatz reserviert wurde. Nun ja, das ist zumindest die grobe Theorie bzw. die Information im Fahrplan. In der praktischen Umsetzung sieht jedoch alles wieder ganz anders aus:

l        Es können maximal zwei (!) Fahrräder mitgenommen werden, weil der Zug kein Fahrradabteil, sondern nur einen kleinen Stellplatz hat.

l        Das Ticket kann nicht am Bahnhof in Rovereto gekauft werden, weil der EuroCity nicht von der italienischen Bahngesellschaft Trenitalia, sondern von der Deutschen Bahn betrieben wird und sich Trenitalia weigert, Dienstleistungen für die Konkurrenz zu erbringen. Ganz konsequent erscheint der EuroCity nicht im italienischen Fahrplan oder auf der Internetseite von Trenitalia. Lösung: Ticket im Internet unter www.bahn.de buchen und ausdrucken oder beim Zugbegleiter im EuroCity (ohne Zuschlag!) kaufen.

l        Aus dem gleichen Grund können auch keine Stellplätze für Fahrräder reserviert werden. Eine Lösung gibt es hier nicht, denn eine Reservierung ist im Internet nicht möglich und ohne Reservierung lässt der Zugbegleiter keine Bikes in den Zug. Einzige Lösung: Reservierung in Deutschland im Bahnhof oder "Mobility Center" klären, womit uns hier und jetzt allerdings nicht wirklich geholfen ist.

Eine ziemlich verwarzte Situation und wir passen den EuroCity um viertel vor vier ab, um einen deutsch sprechenden Zugbegleiter nach einer realisierbaren Lösung zu fragen. Und tatsächlich hat er eine Idee, die unkonventionell, aber nicht gerade einfach ist: Das Bike zerlegen, verpacken und als Handgepäck mitnehmen. "Tolle Wurst", denken wir, "wie soll das denn funktionieren?" Aber mit einigem Nachdenken kommen auch die Ideen und die beste Idee scheint zu sein, Vorder- und Hinterrad auszubauen, mit Klebeband am Rahmen zu fixieren und alles so in eine Plane einzurollen, dass ein handliches Paket daraus wird.

Was ist eigentlich "Handgepäck"? Auskunft gibt die auch heute noch gültige "Verkehrs-Ordnung für die Eisenbahnen Deutschlands vom 15. November 1892 nebst allgemeinen Zusatzbestimmungen" in § 28: "Kleine, leicht tragbare Gegenstände können, sofern sie die Mitreisenden nicht durch ihren Geruch oder auf andere Weise belästigen und nicht Zoll-, Steuer- oder Polizeivorschriften entgegenstehen, in den Personenwagen mitgeführt werden. ... Jedem Reisenden steht nur der über und unter seinem Sitzplatz befindliche Raum zur Unterbringung von Handgepäck zur Verfügung. Die Sitzplätze dürfen hierzu nicht verwendet werden." Streng nach dem Wortlaut dieser antiken Regelung hätten wir also ein Problem, denn das verpackte Bike stinkt zwar nicht, ist aber nicht "klein" und lässt sich definitiv nicht über oder gar unter unseren Sitzen verstauen. Wenn uns jedoch Mr. Zugbegleiter höchstpersönlich diesen Vorschlag unterbreitet…? Wir freunden uns also mit diesem Verstoß gegen die Verordnung von 1892 an.

Vorsichtshalber legen wir am Stadtrand von Rovereto einen kleinen Zwischenstopp im Millenium-Center, einem Einkaufszentrum mit integriertem Baumarkt, ein. Nach den heutigen Erfahrungen mit Bürokratie und Organisation wollen wir ganz sicher gehen und eindeutige Beweise für die Existenz von Klebeband und Folie in Italien haben. Wer weiß, vielleicht gibt es ein Verbot von Klebeband oder eine spezielle Steuer auf Folien? Der Besuch eines Baumarktes ist für mich reines Erlebnisshopping. Ich schlendere also interessiert durch die Regale, bewundere glänzende Badarmaturen eines deutschen Herstellers, die neueste Generation von Bohrmaschinen einer schwäbischen Fabrikation, die schöne bunte Welt der Dübel mit dem Fischsymbol und stelle ernüchtert fest, dass die Unterschiede zu einem typisch deutschen Baumarkt nur gering sind. Leider gibt es keine 20% auf Alles, erst recht nicht auf Tiernahrung. Über dieser Analyse des norditalienischen Warensortiments habe ich wohl ein wenig den Sinn und Zweck meiner Anwesenheit hier vergessen. Aber zum Glück gibt es ja Wuffel, die etwas systematischer vorgeht: Sie sucht sich einen schnittigen Verkäufer, fragt, findet und freut sich. Somit ist klar, wir werden den EuroCity nehmen und reichlich "Handgepäck" mitführen.

Beruhigt begeben wir uns auf die Rückfahrt nach Torbole, wobei wir wiederum die gigantischen 287 Höhenmeter des atemberaubenden Passo San Giovanni wie im Fluge meistern. Zwei Passquerungen an einem Tag, ganz ohne Anstrengungen: "Wir sind richtig gut in Form!", grinsen wir in uns hinein.

Bei all den Überlegungen zur Organisation der Rückfahrt sind wir uns auch über den Termin klar geworden: Übermorgen, Freitag, soll es mit der Bahn über den Brenner bis nach München gehen. Dort werden wir schon von Guido erwartet, der zwar heute noch den alpenländischen Dauerregen genießt, aber für Freitag bestes Biergartenwetter verspricht. Klingt bezaubernd und wir sind uns einig, dass wir uns diese Gelegenheit nicht entgehen lassen wollen. Dafür sind wir sogar bereit, früher aufzustehen und einen Zug früher nach München zu nehmen. Am Samstag wird dann die letzte Etappe von München zurück ins heimische Norddeutschland mit einem Leihwagen bewältigt.

Am Abend fahren wir für eine kleine Shoppingtour nach Riva. Alle Geschäfte haben noch geöffnet und wir streunen durch einige Boutiquen, um die aktuelle italienische Mode und das gelegentlich exorbitante Preisniveau zu bestaunen. Wuffel hat Glück und findet in der Schnäppchenecke tatsächlich einen stylischen Pullover und ein Accessoire.

Zum Abschluss des Tages gibt es später noch einen weißen Landwein (für 3,20 Euro in der Literflasche) an der Campingbar. Dort sitzt am Nachbartisch, wie jeden Abend, "die Familie", eine Gruppe von Italienern, die wohl alle miteinander verwandt sind: Die erwachsenen Frauen sehen alle ziemlich gleich aus und haben eine Statur, die mit viel Wohlwollen als „vollschlank“ geschönt werden kann. Und "die Familie" spielt, wie jeden Abend, Karten, wobei sie sich reihum herrlich aufregen und laut diskutieren. Aber ohne ernsthaften Stress, einfach nur, weil sie sich mit diesen kleinen Theater- und Showeinlagen unterhalten. Wir sind uns einig: Obwohl wir selten ein Wort verstehen, lieben wir sie.